Christian Schmid ist ein Schweizer Mundartspezialist, Autor, Publizist und Performer. Seine wichtigsten Publikationen sind "Botzheiterefaane", "Blas mer i d Schue", "Näbenusse" und "Da hast du den Salat".

Die Welt, die mich leben lässt

Wenn ich in den Garten hinunterschaue, auf die Gartenbeete, in denen nur noch ein paar Sellerie, Randen und Zuckerhüte stehen, auf die winternackten Apfelbäume, die Linde und die Eiben, auf den morschen Strunk des Pflaumenbaumes, an den sich eine Kletterrose schmiegt, die noch ein kleines Röschen in die Kälte hält, auf die kleine Wiese, auf der zwei Amseln sich um ein Apfelstück balgen, schaue ich in die Welt, die mich leben lässt. Was ich sehe, ist ein Teil von mir, denn ich esse von dieser Welt, atme die Luft, die andere Lebewesen für mich atembar machen, lebe vom Wasser, das es jetzt regnet, um nur Weniges zu nennen, das mich zum Teil dieser Welt macht. Davon abgrenzen kann ich mich nicht; allem, was ich sehe, fremd zu sein, würde mich töten.

Wir leben zu selten in der Welt, die uns leben lässt. Wir leben abgeschirmt in isolierten Häusern und blasen die Abgase unserer Heizungen in die Welt, die uns leben lässt. Wir sind oft unterwegs auf Strassen, auf Schienen, auf dem Wasser und in der Luft, blasen die Abgase und die Russpartikel der Motoren und Triebwerke, den Abrieb der Gummireifen in die Welt, die uns leben lässt. Wir sitzen am Computer und am Fernseher, arbeiten, surfen und entspannen uns in der virtuellen Welt, die uns zwar global verbindet, aber nicht leben lässt. Die Welt, die uns leben lässt ist verbaut, durchfurcht, durchgraben, vielfach aufgerissen, geplündert. Sie hat offene Wunden und Narben.

Fragten wir uns ehrlich, was wir wirklich brauchen, müssten wir als erstes immer sagen: die Welt, die uns leben lässt. Aber das sagen wir in den von der kapitalistischen Marktwirtschaft bevorzugten Lagen nie, weil wir uns alles kaufen können aus Welten, von denen eigentlich andere leben sollten. Nur diejenigen, die hungern, weil ihre Welt sie nicht mehr leben lässt, möchten in eine Welt, die sie leben lässt.

Unsere Wünsche betreffen kaum je die Welt, die uns leben lässt, aber sehr oft Welten, die andere leben lassen sollten. Wir möchten dorthin in die Ferien, um uns abgeschirmt in für uns hergerichteten Oasen erholen zu können. Wir möchten ihre Nahrungsmittel essen, die wir uns einfliegen oder mit Schiffen hertransportieren lassen. Wir möchten ihre Musik, ihre Feste und ihre Lebensfreude konsumieren.

Weil wir viel mehr brauchen und verbrauchen, als uns zusteht, gibt es immer mehr Welten, in welchen die Menschen, die von ihnen leben sollten, nicht mehr leben können.