Christian Schmid ist ein Schweizer Mundartspezialist, Autor, Publizist und Performer. Seine wichtigsten Publikationen sind "Botzheiterefaane", "Blas mer i d Schue", "Näbenusse" und "Da hast du den Salat".

Mein neues Buch ist im Buchhandel: mehr hier

01.10.2024 Chäferfüdletroche - wortgeschichtliche Tauchgänge, 15.15 Uhr, Seniorenforum Werdenberg, Hochschule OST, Buchs SG

08.11.2024 Chäferfüdletroche - wortgeschichtliche Tauchgänge, Topoff Interlaken

 



Wort oder Ausdruck der Woche

Unkraut

Die Bezeichnung Unkraut mag ich nicht. Sie hat dieselbe Vorsilbe wie Ungeziefer «tierische Schädlinge», Untier «böses, gefährliches Tier», Unmensch «böser, gefährlicher Mensch», Unrat ursprünglich «schlechter Rat», heute «Weggeworfenes», Unding «Übel, Unrecht», in der Wendung ein Unding sein «völlig unangebracht, unpassend sein». Alle diese Wörter – und es gibt noch viele mehr – bezeichnen Dinge, die dem Menschen nicht nützen und ihm je nach Sachverhalt auch schädlich oder gefährlich sein können. Sie teilen die Welt in zwei Hälften, eine, die dem Menschen genehm, und eine, die ihm nicht genehm ist. Ob die mit Un- bezeichneten Dinge in anderen Zusammenhängen wichtige Funktionen wahrnehmen, wird nicht in den Blick genommen. Die beiden österreichischen Biologen Ludwig von Bertalanffy und Fritz Gessner schreiben zur Bezeichnung Unkraut in ihrem «Handbuch der Biologie» von 1942:

«Der Begriff Unkraut ist unbiologisch; er zerreisst die gegebenen Zusammenhänge in der Natur und stellt eine scheinbare, unechte Nützlichkeitsbetrachtung, eine mechanistisch-kapitalistische Haltung an die Stelle biologischer Möglichkeiten und gegenseitiger Beeinflussung. Keine Pflanze ist allein für sich in der Natur.»

Nähmen wir bei der Beurteilung von Kräutern die ganze Lebenswelt in den Blick, sähen wir, dass Unkräuter für andere Pflanzen und Tiere wichtig sein können. Unkraut ist deshalb ein Unwort aus dem Wörterbuch des Menschen, der sich anmasst, Krone der Schöpfung zu sein. Viel besser gefällt mir mundartliches Gjätt, das nur sagt, dass ich gewisse Pflanzen an bestimmten Orten, z. B. auf einem Gartenbeet, ausjäte.

Das Wort Unkraut, älter unkrût, ist seit dem Althochdeutschen des frühen Mittelalters belegt. Hildegard von Bingen (1098–1179) braucht es wiederholt, um damit Pflanzen, die sich weder als Nahrung noch als Heilmittel verwenden lassen, mit dem Stempel «unbrauchbar» zu versehen. Damit setzte sie eine Tradition des Bezeichnens fort, die in der Antike gängig war, wo man unkrût im Lateinischen inutilis herba «unbrauchbare Pflanze» nannte. Man entfernte es von Hand oder durch Pflügen. Manchmal setzte man auch Amurca ein, ein schaumartiges Sekret (Ölschaum), das beim Auspressen der Oliven entsteht. Cato der Ältere erwähnt das Mittel z. B. in «De Agri Cultura» (um 150 v. Chr.). Amurca ist wohl eines der ältesten Herbizide.

Im Mittelalter lesen wir bereits die Sentenz unkrût wehset ungesât «Schlechtes gedeiht von selbst». Das Wort wird aber auch auf Menschen angewendet, wenn wir z. B. lesen, man fände nichts als unkrût in dem edlen wîbes garten. In übertragener Bedeutung spriesst Unkraut in der Sprache der Theologie seit dem 16. Jahrhundert. Die Theologen werden nicht müde, ihnen nicht genehme Menschen und Lehrmeinungen und anderes mehr, das ihnen nicht in den Kram passt, als Unkraut zu beschimpfen. Luther predigt vom «Unkraut / so da heisst falsche Lere […] und falsche Christen». Im Jahr 1580 predigt der katholische Theologe Jakob Feucht: «Das Unkraut ist Ketzerey und falsche Lehr.» In einer Bibel aus dem Jahr 1681 lese ich: «Der gute same sind die kinder des reichs. Das unkraut sind die kinder der bosheit.» Johann Heermann predigt 1652, der gottlose Mensch sei vor Gottes Augen « nichts mehr / denn nur ein nichtig und untüchtig Unkraut».

Nicht die inutilis herba, die unbrauchbaren Pflanzen, stehen hinter dem theologischen Unkraut-Begriff, sondern die mala herba, die schädlichen, bösen Pflanzen. Bereits im hohen Mittelalter bezeichneten Theologen Frauen als mala herba, quae cito crescit «Unkraut, das rasch wächst». Deshalb lesen wir in «Gepflückte Fincken» von 1667: «Gleich wie das Unkraut pflegt dem Weitzen vorzukommen // Also das Weibs Geschlecht / das von dem Mann genommen // Wächst viel geschwinder auff / weil sie nur Unkraut heissen.»

Ich meide das Wort Unkraut, denn es hat eine toxische Geschichte. Und wer die ganze Lebenswelt im Blick hat, dem ist es auch im Garten zu nichts mehr nütze. Schon lange wissen wir zudem, dass unsere Herbizide, die Unkrautvertilger, weit mehr zerstören als nur sogenannte Unkräuter.
 

(Die gesammelten Wörter der Woche finden Sie hier und in überarbeiteten Versionen im Buch "Chäferfüdletroche", das im Cosmos Verlag erschienen ist. Siehe oben)


Der Sprachatlas der deutschen Schweiz ist online! 13 Jahre lang habe ich an diesem Werk mitgearbeitet und seine Online-Ausgabe ist prächtig geworden, eine grossartige Arbeit. Schaut rein, es lohnt sich.


Neoländler, die Musikgruppe von EIGETS, hat eine prachtvolle neue CD gemacht


Siehe unter neolaendler.ch






AALUEGE

Eine Seite aus dem schönen Züritüütsch-Chinderchochbuech "Misch & Masch", das die Handelskette BachserMärt herausgegeben hat:  


Zum Baselbieter Mundartautor Jonas Breitenstein (1828-1877), der sehr schöne Hexameteridyllen geschrieben hat, gibt es eine sehr lesenswerte Website, in welcher eine umfangreiche Dokumentation zu Leben, Werk und Umfeld des Baselbieter Pfarrers und Dichters zusammengestellt ist.

 


Ein für Mundartinteressierte wichtiges, wunderbares, neues Buch, das endlich einen umfassenden Überblick gibt über die Geschichte der Einstellungen zum Schweizerdeutschen. Herausgeber: Emanuel Ruoss und Juliane Schröter, erschienen im Schwabe Verlag:

  Schweizerdeutsch


In der Deutschschweiz hat die Reflexion über die eigenen Dialekte und deren Verhältnis zum Hochdeutschen eine lange Tradition. «Schweizerdeutsch» ist das erste Buch, das einen umfassenden Überblick über die Geschichte der Einstellungen zum Schweizerdeutschen gibt. Es zeichnet die wichtigsten öffentlichen Debatten darüber seit 1800 nach und ordnet sie in ihre politischen und kulturhistorischen Zusammenhänge ein. So macht es verständlich, wie Schweizerdeutsch in der Vergangenheit wahrgenommen und beurteilt wurde und warum es bis heute einen wesentlichen Teil der Deutschschweizer Identität bildet.

Der Gitarrist und Lautenist Christoph Greuter, mit dem ich oft und gern auftrete, hat zwei neue Lauten-CDs gemacht, die demnächst im Handel erscheinen:

ARCADIA | Italienische Lautenmusik der Hochrenaissance

Label : Narrenschiff (Nar 2020146)
SPREZZATURA | Tänze + Ricercari aus den frühesten Lautenhandschriften

Label : Narrenschiff (Nar 2020147)

Hörmuster auf www.christophgreuter.ch


Artikel, Tondokumente und Video

Schaffhauser Fernsehen "hüt im Gspröch" vom 4. März 2024

Interview "Mundartliteratur sollte endlich wieder erforscht werden!" auf blog.berndeutsch.ch

Der Generationentalk mit Estelle Plüss (Best-Elle), geleitet von Elias Rüegsegger vom Generationentandem und im Generationenhaus Bern am 17.12.2019

Schaffhauser Fernsehen "Hüt im Gspröch" mit Alfred Wüger vom November 2019 (zum Buch "Häbet nech am Huet")

"Reden wir überhaupt noch Dialekt?" Interview von Lena Rittmever im Bund vom 25.10.2019

"Mundartforscher Christian Schmid: 'Das ist eine Stadt-Land-Geschichte'", Interview mit Martin Uebelhart in der Luzerner Zeitung vom 4.5.2018

Mundart-Experte Christian Schmid beantwortet Leser-Fragen im Blick vom 23.10.2017 

"Die Pendler nehmen Wörter mit nach Hause", Interview mit Daniel Arnet im  Sonntagsblick 2017

"Der Wörtli-Schmid und seine Redensarten" Schnabelweid mit Christian Schmutz, SRF1 am 9.11.2017

Schwiizerdütsch im Top Talk auf Tele Top 2017

"Werum sich d Mundart dörf verändere" in Volksstimme vom 31.1.2017

Christian Schmid erzählt die Sage von der Scheidegg-March