Christian Schmid ist ein Schweizer Mundartspezialist, Autor, Publizist und Performer. Seine wichtigsten Publikationen sind "Botzheiterefaane", "Blas mer i d Schue", "Näbenusse" und "Da hast du den Salat".

EIGETS: NEOLÄNDLER+CHRISTIAN SCHMID

Tänze, Lieder, Jutze und Geschichten im Kulturraum Die Werft in Liestal am 16.4.2023, 11 Uhr



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Wort oder Ausdruck der Woche

Das blaue Wunder

«BLICK zeigt, worauf man beim Buchen des Feriendomizils achten soll, damit man nicht sein blaues Wunder erlebt», lese ich im «Blick» vom 27. April 2021. Die Redensart sein blaues Wunder erleben «eine grosse unangenehme Überraschung erleben» ist heute nicht mehr sehr geläufig. Meistens wird sie uneigentlich gebraucht wie in der Werbeanzeige: «Schnorcheln und blaue Wunder erleben in Kroatien», in der sich «blaue Wunder» auf das kristallklare blaue Meerwasser, vielleicht auch auf blaue Grotten und den Schönwetterhimmel bezieht.

Der feste Ausdruck blaues Wunder hat eine lange Geschichte. Um 1800 entstand eine Erzählung zu seiner Herkunft, die bis heute herumgeboten wird und mit dem Kobaltabbau in Sachsen zu tun hat. Im «Verkündiger» vom 5. September 1809 lautet sie so:

«Wer die Kunst, [aus dem Kobalt] die blaue Farbe zu bereiten, erfand, ist nicht ausgemacht, doch muss sie zwischen 1500 und 1520 fallen, denn da ist ein gewisser Peter Weidenhammer aus Franken durch den Handel mit solcher blauer Farbe, die er Centnerweise nach Venedig sandte, sehr reich geworden. Späterhin benutzte ihn ein böhmischer Glasmacher, Christoph Schürer, zur Verfertigung des blauen Glases, (zwischen 1540 und 1560) und legte endlich erst eine Hand-, dann eine Wassermühle an, die den Centner Farbe für 71/2 Reichsthaler lieferte.

Anfänglich hiess diese blaue Farbe nur ein Schneeberger blau Wunder. Daher ohne Zweifel die wenigstens in Sachsen gebräuchliche Redensart: ‹Ich habe mein blaues Wunder gesehn›.»

Drei Tatsachen sprechen gegen diese Geschichte: Erstens liest man in einem Text aus dem Jahr 1684, der erzählt, wie Weidenhammer mit der Herstellung von Kobaltblau reich geworden ist, nichts von einem blauen Wunder. Zweitens lassen sich keine Belege zu «Schneeberger blau Wunder» aus dem 16. und 17. Jahrhundert finden. Drittens stammt der früheste Beleg für blaues Wunder aus dem 15. Jahrhundert. In einer Handschrift von 1451 ist von ungetreuen Wichten die Rede, die mit ihrem falschen Gehabe nichts als «wunder pla», d. h. einen «falschen Schein» erzeugen.

Seit dem Mittelalter konnte das Wort Wunder «etwas im positiven oder negativen Sinn Erstaunliches» bezeichnen. Deshalb kommen die Ausdrücke Wunder sehen und Wunder hören (sagen) oft vor. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts wird Wunder in diesen Ausdrücken mit dem Adjektiv blau verstärkt, wenn sie sich auf etwas beziehen, das nicht zu glauben ist. Der Theologe Andreas Musculus schreibt in «Wider den Hoffartsteufel» von 1565 über das seine ganze Pracht entfaltende Papsttum in Italien und Frankreich: «davon hört einer sein blaues wunder / dass wol unser hoffart ein betteltantz dagegen möcht genent werden». Noch deutlicher kommt das ablehnende nicht glauben Wollen zum Ausdruck in einer Predigt von 1608, in der sich der lutherische Geistliche Polykarp von Leyser darüber ärgert, dass sich Männer und Frauen auf ungehörige Weise herausputzen:

«Es sihet und höret einer seine blawe Wunder / wenn er nur ein wenig unter die Leut kömmet. Da darff ein Kerl auff dem Hut einen uberaus hohen / breiten / langen und grossen / dicken Federbusch tragen / der mehr kostet denn das Bett das er bey der Nacht unter dem Leib hat. Von Handwergs Weibern wil man reden / dass etliche Attlasin Röck und Schauben mit Zobeln gefüttert tragen wöllen.»

Wenig später behauptet der lutherische Theologe Arnold Mengering in seinem «Kriegs-Belial» von 1638: «Man höret und sihet doch nur sein blawes Wunder / wenn man plumpsweise unter Soldaten geräth / wie sie sich so fein mit dem Teuffel einsegnen können» und «man siehet sein blawes Wunder / was für ein geschachere und hanthiere ist bey denen Städten». Sein blaues Wunder sehen oder hören heisst also so viel wie «man mag seinen Augen und Ohren nicht glauben». Die Bedeutung der Farbe blau in festen Verbindungen ist sehr komplex und Christiane Wanzeck hat sie in ihrem Buch «Zur Etymologie lexikalisierter Farbwortverbindungen» von 2003 kompetent herausgearbeitet. Oft steht blau für «nicht zu glauben, lügenhaft, anstössig, nichtig».

Die uns bekannte Form der Redensart sein blaues Wunder erleben kommt erst im 18. Jahrhundert auf. In Matthias Kramers «Das herrliche grosse teutsch-italiänische Dictionarium» von 1702 heisst es noch: «seinen blauen (sein blaues) Wunder an einem sehen / hören / erleben». Und in «Gargantua und Pantagruel» (1787) von Christian Levin Sander lesen wir: «Wer hat in Europa nicht an den Decretalien (Urkunden) sein blaues Wunder erlebt?» Im 19. Jahrhundert wird sie geläufig. Hermann Schiff schreibt in der Novelle «Die Waise von Tamaris» von 1855: «Morgen fangen die Scenenproben an und die Solotänzer werden ihr blaues Wunder erleben. Sie schütteln jetzt schon missvergnügt die Köpfe zu den Affentänzen, den Froschreigen und den Voltigeurkünsten der kleinen Teufelchen im Blocksberggewimmel.»

 (Die gesammelten Wörter der Woche finden Sie hier und in absehbarer Zeit in überarbeiteten Versionen in einem Buch, das im Cosmos Verlag in Arbeit ist. Arbeitstitel: Chäferfüdletroche)



Neoländler, die Musikgruppe von EIGETS, hat eine prachtvolle neue CD gemacht

Siehe unter neolaendler.ch






AALUEGE

Eine Seite aus dem schönen Züritüütsch-Chinderchochbuech "Misch & Masch", das die Handelskette BachserMärt herausgegeben hat:  


Zum Baselbieter Mundartautor Jonas Breitenstein (1828-1877), der sehr schöne Hexameteridyllen geschrieben hat, gibt es eine sehr lesenswerte Website, in welcher eine umfangreiche Dokumentation zu Leben, Werk und Umfeld des Baselbieter Pfarrers und Dichters zusammengestellt ist.

 


Ein für Mundartinteressierte wichtiges, wunderbares, neues Buch, das endlich einen umfassenden Überblick gibt über die Geschichte der Einstellungen zum Schweizerdeutschen. Herausgeber: Emanuel Ruoss und Juliane Schröter, erschienen im Schwabe Verlag:

  Schweizerdeutsch


In der Deutschschweiz hat die Reflexion über die eigenen Dialekte und deren Verhältnis zum Hochdeutschen eine lange Tradition. «Schweizerdeutsch» ist das erste Buch, das einen umfassenden Überblick über die Geschichte der Einstellungen zum Schweizerdeutschen gibt. Es zeichnet die wichtigsten öffentlichen Debatten darüber seit 1800 nach und ordnet sie in ihre politischen und kulturhistorischen Zusammenhänge ein. So macht es verständlich, wie Schweizerdeutsch in der Vergangenheit wahrgenommen und beurteilt wurde und warum es bis heute einen wesentlichen Teil der Deutschschweizer Identität bildet.

Der Gitarrist und Lautenist Christoph Greuter, mit dem ich oft und gern auftrete, hat zwei neue Lauten-CDs gemacht, die demnächst im Handel erscheinen:

ARCADIA | Italienische Lautenmusik der Hochrenaissance

Label : Narrenschiff (Nar 2020146)
SPREZZATURA | Tänze + Ricercari aus den frühesten Lautenhandschriften

Label : Narrenschiff (Nar 2020147)

Hörmuster auf www.christophgreuter.ch


Artikel, Tondokumente und Video

"Häbet nech am Huet" (10.11.2020) im Nighttalk auf Radio Zürisee.

Interview "Mundartliteratur sollte endlich wieder erforscht werden!" auf blog.berndeutsch.ch

Der Generationentalk mit Estelle Plüss (Best-Elle), geleitet von Elias Rüegsegger vom Generationentandem und im Generationenhaus Bern am 17.12.2019

Schaffhauser Fernsehen "Hüt im Gspröch" mit Alfred Wüger vom November 2019 (zum Buch "Häbet nech am Huet")

"Reden wir überhaupt noch Dialekt?" Interview von Lena Rittmever im Bund vom 25.10.2019

"Mundartforscher Christian Schmid: 'Das ist eine Stadt-Land-Geschichte'", Interview mit Martin Uebelhart in der Luzerner Zeitung vom 4.5.2018

Mundart-Experte Christian Schmid beantwortet Leser-Fragen im Blick vom 23.10.2017 

"Die Pendler nehmen Wörter mit nach Hause", Interview mit Daniel Arnet im  Sonntagsblick 2017

"Der Wörtli-Schmid und seine Redensarten" Schnabelweid mit Christian Schmutz, SRF1 am 9.11.2017

Schwiizerdütsch im Top Talk auf Tele Top 2017

"Werum sich d Mundart dörf verändere" in Volksstimme vom 31.1.2017

Christian Schmid erzählt die Sage von der Scheidegg-March