Christian Schmid ist ein Schweizer Mundartspezialist, Autor, Publizist und Performer. Seine wichtigsten Publikationen sind "Botzheiterefaane", "Blas mer i d Schue", "Näbenusse" und "Da hast du den Salat".

2022 – Angriffskrieg in Europa

Seit dem 20. Februar 2022 greifen russische Truppen die Ukraine an. Putin rechtfertigte den Angriff damit, dass er in der prorussischen Ostukraine einen Genozid verhindern und in Kiew die antirussische Politik von Nationalisten und Neofaschisten beenden müsse. Zudem habe die Ukraine keine von Russland unabhängige Existenzberechtigung. Wes Geistes Kind diese Art Wahrheit ist, hat der amerikanische Professor Timothy Snyder in seinem Buch «Der Weg in die Unfreiheit. Russland Europa Amerika» von 2018 genau erklärt. Da sich Putin den Russen und Russinnen nicht als Garant von Wohlstand und Freiheit präsentieren kann, die ja seine Oligarchen im Westen brauchen, wo sie ihre Luxussitze haben und ihr Geld gewinnbringend arbeiten lassen, muss er ihnen weismachen, der Westen bedrohe russische Werte:

«Unter Putin konnte Russland keinen stabilen Staat etablieren, der auf einem Nachfolgeprinzip und Rechtsstaatlichkeit beruhte. Da Scheitern jedoch als Erfolg ausgegeben werden musste, hatte sich Russland für Europa als Vorbild zu präsentieren statt umgekehrt. Folglich durfte Erfolg nicht über Wohlstand und Freiheit definiert werden, sondern über eine bestimmte Haltung zu Sexualität und Kultur. Die Europäische Union (und die Vereinigten Staaten) mussten als Bedrohung definiert werden […] wegen der von ihnen angeblich vertretenen Werte.»

Für sich beanspruchte Putin bespredel, «die Abwesenheit von Einschränkungen, das heisst, die Kompetenz des Führers zu tun, was ihm beliebt», um die Russland bedrohende westliche Dekadenz abzuwehren.

Das Recht, sich Einschränkungen ihres Führungsanspruchs zu verbitten, beanspruchen auch Staatschefs innerhalb der EU, wie Viktor Orban in Ungarn und Andrzej Duda in Polen, für sich, wobei auch sie das Argument der westlichen kulturellen Dekadenz zu nutzen wissen.

Interessant ist, dass seit einigen Jahren westliche Politiker vom rechten Rand bis in die politische Mitte Verständnis für Putin äussern und dabei das Argument kultureller Dekadenz benutzen. SVP-Mann Roger Köppel veröffentlichte in seiner «Weltwoche» am Tag vor dem Kriegsbeginn einen Text mit dem Titel «Kleine Psychologie der Putin-Kritik», in dem er schrieb, dass westliche Journalisten und Intellektuelle Putin hassten, «weil er für all das steht, was sie ablehnen, verteufeln und was deshalb nicht sein darf: Tradition, Familie, Patriotismus, Krieg, Religion, Männlichkeit, Militär, Machtpolitik und nationale Interessen». Vielleicht ist Roger Köppel ein Anhänger des von Putin gepriesenen russischen Politikers und Publizisten Alexander Geljewitsch Dugin, der den Westen als «Nährboden der verkommenen kulturellen Perversion und Boshaftigkeit» bezeichnet hat.

Ich hasse Putin nicht, er ekelt mich an. Er ist ein verantwortungslos handelnder Despot. Seine Pose, sich im Geiste Gumiljows und Dugins für die Buckelspitze des eurasischen Schutzschilds gegen westliche Dekadenz zu gerieren, um seine hegemonialen Pläne zu rechtfertigen, halte ich für gefährlich, weil sie Roger Köppel, Donald Trump, Steve Bannon, dem Köppel 2018 zum ersten Auftritt in Europa verhalf, Tucker Carlson von Fox News und vielen Putin-Claqueuren vom rechten politischen Rand gefällt. Sie glauben, sie müssten einen hegemonialen weissen, patriarchalen, nationalistischen Anspruch auf die Welt verteidigen. Und sie hassen alles, was diesem Anspruch widerspricht, säen Hass und behaupten Hass, wo er nicht ist.

Und noch etwas: Die Schweizer Regierung ist bislang noch nicht bereit, die gegen Russland verhängten Sanktionen mitzutragen. Zu viele russische Oligarchen aalen sich in der Schweiz, zu viel von ihrem Geld liegt in Schweizer Banken, zu gross ist der russische Rohstoffhandel, der in der Schweiz abgewickelt wird. Hatten wir das nicht schon mal, Wirtschaftlichkeit vor Menschlichkeit bis zum bitteren Ende?


28. Februar 2022
Die Meldungen überstürzen sich: Putin setzt seine Atomstreitmacht in Alarmbereitschaft. Die Ukraine und Russland verhandeln über Frieden an der ukrainisch-weissrussischen Grenze, während der Krieg weitergeht. Schweden will der Ukraine Waffen liefern. Deutsche und englische Fussballclubs trennen sich von ihren russischen Oligarchenmäzenen. Das Zürcher Opernhaus überlegt sich, die Putin-Freundin Netrebko auszuladen. Die Mailänder Scala setzt den putinfreundlichen Dirigenten Gergiev vor die Tür. Fussballnationalmannschaften sagen ihre Spiele gegen Russland ab.

In London, das bis jetzt für russische Oligarchen den roten Teppisch auslegte und ganze Stadtteile ihrem Einfluss preisgab, überlegt sich die Regierung, deren Konti nicht nur zu sperren, sondern sie zu enteignen. In der Schweiz hat der Bundesrat, der aus dem In- und Ausland unter Druck geraten ist, beschlossen,  die EU-Sanktionen vollumfänglich mitzutragen.

Das grosse Händewaschen hat begonnen. Der kapitalistische Westen, der bis jetzt das putinsche Unrechtsregime stützen half, indem er mit dessen Oligarchen im grossen Stil geschäftete, ist plötzlich mit dessen Unrecht direkt konfrontiert.
Mitten in diese Kriegsunruhe platzt der Bericht des Weltklimarates, der in harscher, schonungsloser Sprache sagt, was uns blüht. Putins Krieg wird die Klimabemühungen so zurückwerfen, dass der Kampf gegen die Klimazerrüttung fast aussichtslos wird