Christian Schmid ist ein Schweizer Mundartspezialist, Autor, Publizist und Performer. Seine wichtigsten Publikationen sind "Botzheiterefaane", "Blas mer i d Schue", "Näbenusse" und "Da hast du den Salat".

Blöde Kuh, Drecksau

Weshalb sind wir so schnell bereit, andere Menschen mit Tierbezeichnungen zu titulieren, wenn wir verächtlich über sie sprechen oder sie beschimpfen? Wir sprechen ihnen damit ab, was uns zu Menschen macht: Persönlichkeit und Individualität. Menschen beurteilen Tiere fast ausschliesslich als Gattungswesen ohne individuelle Eigenschaften und ohne Intelligenz. Wir nehmen Würmer, Wespen, Ameisen, Fische, Rehe, Wildschweine und Vögel wahr. Nur bei unseren Hunden und Katzen machen wir eine Ausnahme, auch bei Pferden, seltener bei Kühen, kaum bei Schweinen oder Hühnern. Melanie Challenger schreibt in ihrem Buch «Wir Tiere»:

«Der Retriever, der nachts vor unserem Bett schläft, ist nicht intelligenter oder aussergewöhnlicher als das Schwein, das wir mittags auf dem Teller hatten.»

Tiere sind für uns keine Lebenspartner der Ökosphäre mit je eigenen Verhaltensweisen. Beschäftigten wir uns eingehender mit ihnen, nähmen wir rasch wahr, dass z. B. ein bestimmter Star nicht einfach eine Art Vogel ist, sondern dass er sich im Vergleich mit seinen Artgenossen auf wiedererkennbare Weise individuell verhält, dass er eine Vogel-Persönlichkeit ist. Walter A. Sonntag schildert dazu in seinem Buch «Das wilde Leben der Vögel» Interessantes.

Die Anthropologie hat uns gezeigt, dass Menschen, die nicht wie wir zwischen Natur und Kultur unterscheiden, Tiere und auch Pflanzen in ihren Kosmos einbeziehen. Sie stellen sich nicht wie wir als etwas Besonderes ausserhalb dieses Kosmos. Das heisst nicht, dass sie nicht Tiere und Pflanzen essen. Aber sie leisten dafür rituell Abbitte. Ihre tierischen und pflanzlichen Lebenspartner sind beseelt.

Wann wurde aus dem Huhn ein dummes Huhn und aus der Sau eine Drecksau? Für den israelischen Historiker Yuval Harari war der Sündenfall die Domestizierung von Tieren. Damit beliessen wir den Tieren nicht mehr ihr in Freiheit gelebtes eigenes Wesen, sondern wir degradierten sie zu Zwecken unserer Absichten. Tatsache ist, dass seit dem Beginn der Domestizierung die Darstellung von Wildtieren in Kunstwerken abnimmt.

Der mächtige Auerochse, der über Jahrtausende zur Kuh mutierte, wurde bis ins Mittealter immer kleiner. Heute ist die Kuh eine Hochleistungs-Milchproduzentin, die nach zwei bis drei Geburten ausgedient hat. Als Mutterkuh interessiert sie mehr als Fleischlieferantin denn als individuelles Nutztier. Melanie Challenger schreibt:

«Sobald domestizierte Lebewesen zu Lasttieren und Lieferanten von Fleisch und Wolle wurden, war es offenbar nicht mehr nötig, sich in sie hineinzuversetzen. Wahrscheinlich war es nun von Vorteil anzunehmen, dass andere Tiere nicht denken können. Mit dem Aufkommen der Landwirtschaft vor etwa zehntausend Jahren könnten Tiere ihren Geist verloren haben. Oder: Wir haben ihn aus den Augen verloren.»

Nicht förderlich für die Entfremdung des Menschen vom Tier ist auch die Tatsache, dass immer mehr Menschen, vor allem diejenigen, die in Städten leben, kein direktes Verhältnis mehr zu Tieren und oft auch zu Pflanzen entwickeln können. Für sie ist, was sie Natur nennen, kein Teil der einen Ökosphäre, sondern Fremde. Unser Verhältnis zum Leben erstickt in den Städten.