Christian Schmid ist ein Schweizer Mundartspezialist, Autor, Publizist und Performer. Seine wichtigsten Publikationen sind "Botzheiterefaane", "Blas mer i d Schue", "Näbenusse" und "Da hast du den Salat".

Das Tier und wir

Wir sind Tiere, die keine Tiere sein wollen, weil wir einen – meinen wir – alles überragenden Geist haben. Der Geist ist oben, das Tier unten. Hunderte von Jahren wurde uns das gepredigt in Religion und Philosophie. «Den Leib, die Schale, lass ich liegen, / Der Geist hebt sich zu Gottes Thron», dichtete der Barockdichter Benjamin Schmolck in seinem Liederbuch «Schöne Kleider für einen betrübten Geist» von 1723. Tiere waren für die Geistlichen und Gelehrten vom 16. bis ins 18. Jahrhundert vor allem eines: dumm. Und sie hatten keine Seele. Beim Schreiben meines Buchs «Nur die allergrössten Kälber wählen ihren Metzger selber. Unsere Tiere in der Sprache» (Cosmos Verlag, Muri bei Bern, 2021), in dem ich sieben Nutz- und Haustiere unter die Lupe genommen habe, ist mir bis zum Überdruss bewusst geworden, mit welchen Tierinvektiven die Geistlichen einander und ihre Gläubigen traktiert haben. Vor allem die Sau und das Schwein, der Esel, das Vieh und der Hund mussten in dieser unflätigen Sprache herhalten, um mit ihnen Gegner und Missliebige zu desavouieren. Der Reformator Martin Luther wurde von seinen Gegnern «Saumärtel» genannt, wie sein Verteidiger, der Hamburger Pastor Johann Möller in «Lutherus defensus» von 1684 schreibt:

«Insonderheit aber werffen sie Luthero schimpflich für / dass er so viel von Säuen redet in seinen Schrifften / wenn er saget: Der Bapst halte die Kirche für einen Säustall / der Papisten Heiligkeit könne auch ein Hund und Sau thun / sie seyn in der Schrifft so fertig (gewandt) / wie eine Sau auff der Harffen / eine Sau bleibe eine Sau / wie sie ist / der Bapst reite auff der Sau / eine Sau solle keine Taube / und Guckguck keine Nachtigal seyn: Die Papisten sind und bleiben Säu / und sterben wie Säu / etc. Umb solches Wortes willen heissen sie Lutherum Saumärtel / und muss er ihnen ein säuischer / unflätiger Mann heissen.»

Noch im 19. Jahrhundert, in der Zeit der bürgerlichen Überlegenheit, brauchten Autoren das Attribut «dumm», um Tiere zu beschreiben. In der «Kleinen Schul-Naturgeschichte» von 1891 erklärt Samuel Schilling: «Das Nashorn […] ist ein grosses fast 4 m langes, plump gebautes dummes Tier.»

In der Alltagssprache von heute wirkt das alles nach; wir sind schnell bereit dummes Huhn, blöde Kuh, Drecksau, Esel und fauler Hund auszuteilen, obwohl wir viel mehr über Tiere wissen als unsere Vorfahren vor einigen hundert Jahren. Warum wollen wir nicht verstehen, dass Tiere und alle anderen Erdverhafteten Hausgenossen der einen und einzigen Ökosphäre sind? Warum haben wir neben dem Kuschelverhalten, mit dem wir gewisse Haustiere hätscheln, kein Mitgefühl für unsere tierischen Mitgenossen und erkennen ihren Wert nicht, von den kleinsten bis zu den grössten? Warum lassen wir so viele von ihnen verschwinden, als gingen sie uns nichts an?

Von den Haus- und Nutztieren aus gesehen ist ihre Geschichte mit dem Menschen durchzogen von Leid und Leiden. In ihren Ohren müssen die Worte der Genesis «herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen» furchtbar klingen. Pferde züchtete der Mensch schon in vorgeschichtlicher Zeit zur ersten Kriegsmaschine; Milliarden von ihnen sind in den Kämpfen und Kriegen der Menschen umgekommen. Niemand hat für sie je ein Denkmal errichtet, es sei denn als Sitzunterlage für Helden. Hühner und Schweine haben wir zu Massenware gezüchtet, die zum Teil unter schrecklichen Bedingungen vegetieren müssen. Kühe sind hornlose Hochleistungsmilchmaschinen geworden, welche man, wenn sie zwei- bis dreimal gekalbt haben, nicht mehr brauchen kann.

Der Hund, der in der Eiszeit zum Gefährten des Menschen geworden ist, war während Jahrhunderten ein Gebrauchsgegenstand, der jagen, hüten, bewachen, treiben, tragen, ziehen und in Treträdern rennen musste. Streuner schlug man tot. Gegen Katzen wurde gepredigt, weil sie, wie behauptet wurde, die Natur von Ketzern hatten und im Hexenunwesen als Dämonen wirkten.

Tieren mit und neben uns Raum zu lassen und sie als Mitgeschöpfe anzuerkennen, fällt uns schwer. Können wir es nicht oder wollen wir es nicht?