Christian Schmid ist ein Schweizer Mundartspezialist, Autor, Publizist und Performer. Seine wichtigsten Publikationen sind "Botzheiterefaane", "Blas mer i d Schue", "Näbenusse" und "Da hast du den Salat".

Der kriechende Hahnenfuss

Der kriechende Hahnenfuss

Unser Garten liegt am hinteren Rand eines Zwischenbodens an einem Südhang. Der Garten meines hinteren Nachbarn fällt ab. Die ganze Siedlung einer Wohnbaugenossenschaft, also die Häuserreihe mit unserem Garten und Haus, einer Strasse, der Häuserreihe gegenüber, deren Gärten, einer dritten Häuserreihe und einer weiteren Strasse, belegt den Zwischenboden, dann fällt das Gelände weiter ab. Die Zwischenlage ist jedoch nicht ganz eben, denn unser Garten liegt in einer flachen, kaum erkennbaren Mulde. Regnet es sehr stark, bilden sich auf dem mit Platten ausgelegten Weg zwischen Garten und Wiese rasch Tümpel und die schmalen Wege zwischen den etwas höheren Beeten füllen sich wie kleine Tröge mit Wasser. Um das Versickern zu erleichtern, haben wir den Platz zwischen dem Haus einerseits und Wiese, Garten sowie Frontrabatte andererseits grösstenteils bekiest belassen und nicht mit Platten dichtgemacht, damit er pflegeleichter werden sollte. Den Kies müssen wir von Zeit zu Zeit mit der Pendelharke durchharken, damit Moos, Gras, Kräuter und Blumen ihn nicht überwuchern. Im Frühjahr freuen wir uns hingegen, wenn erst die Krokusse, dann die Sternhyazinthen und die Traubenhyazinthen sich nicht an Grenzen halten, sondern auch kräftig aus dem Kies spriessen. Ihren kleinen Zwiebeln kann die Harke nichts anhaben.

Weil Starkregen im Zuge der Klimazerrüttung zunimmt, wird der besorgte Blick nach draussen allmählich zur Gewohnheit. Mag der Boden das Wasser noch schlucken oder bahnt es sich die Treppe hinunter den Weg in den Keller und richtet dort unter Gartenutensilien, Vorräten und Maschinen ein Chaos an? Wird der Starkregen bedrohlich, gleiten manchmal Schlagzeilen durch meinen Kopf: «Die Natur rächt sich» oder «Die Rache der Natur», «Natur aus den Fugen», «Die Erde wehrt sich», «Das Wetter schlägt zurück», «Das Klima spielt verrückt». Aus ihnen spricht blankes Unwissen, die Verschlagenheit des Drangs zu vertuschen und zu verheimlichen oder Angst vor der Wahrheit. Was uns in zunehmend bedrohlichem Mass entgegentritt, sind Folgen unseres eigenen Tuns, die nirgends einkalkulierten Schäden, die wir im ausbeuterischen Umgang mit der Lebenswelt verursachen. Was uns entgegentritt, ist der blinde Fleck unseres Spiegelbilds und nicht irgendeine Bestie, die Natur, Erde, Wetter oder Klima genannt wird, und schon gar nicht der liebe Gott, mit dem sich sehr gläubige Christen gern aus der Verantwortung ziehen.  

Nach einem Regen verwandelten sich meine früher blank gereinigten Wege zwischen den Gartenbeeten in Schlammtröge, in denen man leicht ausglitt und die Schuhe so schmutzig machte, dass man nicht einfach rasch etwas Schnittsalat und zwei Kohlrabi holen konnte. Man musste die Gartenschuhe anziehen und sie dann reinigen. Oft klebte auch an der Hose ein Schmutzrand. Was tun? Ich wollte keine Steinplatten oder Bretter zwischen die Beete legen. Die Wege mit Holzschnitzeln zu bestreuen, taugte nicht, denn bei Starkregen schwammen sie immer der niedrigerliegenden Seite zu und mussten neu verteilt werden. Deshalb entschloss ich mich, die Wege überwuchern zu lassen wie Feldwege zwischen Äckern.

Der Bewuchs erfüllt seither seine Aufgabe; die Wege sind auch nach Regen gut begehbar. Manchmal muss ich sie mähen und stark wachsende Krautstöcke entfernen: Löwenzahn, Gänseblümchen, Zitronenmelisse, ein Gartenstreicher, der sich überall breitmacht, Vergissmeinnicht, ab und zu Borretsch, dem wir sonst in unserem Garten viel Freiheit lassen, weil die Insekten ihn lieben, und Klee. Nachteilig für mich ist, dass Pflanzen unsere Grenzen überhaupt nicht respektieren. Sie wuchern von den Seiten her auf die Beete und müssen von Zeit zu Zeit durch Jäten in die Schranken gewiesen werden, was sich leidlich gut bewerkstelligen lässt.

Mit der verbissenen Hartnäckigkeit des Hahnenfusses habe ich allerdings nicht gerechnet. Ich meine den kriechenden Hahnenfuss, den ranunculus repens. Er wächst rasch, wurzelt tief, bildet kriechende Ausläufer und verbreitet sich deshalb teppichartig. Ich begann ihn, trotz seiner hübschen gelben Blüten, zu hassen, weil ich jedes Frühjahr beim Bestellen der Beete kübelweise Hahnenfuss entfernen und ihn im Verlauf des Sommers immer wieder aus den Rändern der Beete jäten muss. Abreissen nützt nichts, denn die Pflanze ist stark und tapfer; wo man sie loshaben will, muss man sie mit den Wurzeln ausstechen. Gärtner bezeichnen den kriechenden Hahnenfuss deshalb gern als eines der lästigsten Unkräuter und rücken ihm, werden sie ungeduldig und rabiat, mit Herbiziden zu Leibe.

Wer sich klug macht, liest, dass kriechender Hahnenfuss sauren, lehmigen Boden liebt und dass man ihm deshalb mit Kalk das Leben schwermachen kann. Weil ich ihn genauer in Augenschein nahm, wich meine blinde Abneigung rasch einer für mich und den Hahnenfuss nützlicheren Einschätzung. Beim Bestellen der Beete im Frühjahr stellte ich fest, dass dort, wo der Hahnenfuss aufs Beet gekrochen war, die etwas lehmige Erde durch seine langen Wurzelbüsche aufgelockert und krümeliger geworden war. Sie musste, verglichen mit dem Rest des Beetes, weniger stark mit dem Kräuel bearbeitet werden. Zudem tummelten sich dort mehr Würmer. Obwohl ich den Hahnenfuss auf den Beeten weiterhin ausjäte, gebe ich gerne zu, dass er mir auch nützt. Eine weitere gute Eigenschaft machte ihn mir noch beliebter: viele Insekten, Schwebfliegen, Honigbienen, Wildbienen und Tagfalter, mögen ihn; für sie ist er im Frühjahr als Frühblüher wichtig.

Behauptete jemand in meinem Garten, es sei eine Tatsache, dass der kriechende Hahnenfuss ein übles Unkraut sei, müsste ich ihm widersprechen. Wir könnten uns wohl darauf einigen, dass es die Pflanze, die in der deutschen Sprache kriechender Hahnenfuss genannt wird, gibt, unabhängig davon, wie wir sie nennen und einschätzen. Die Existenz dieser Pflanze ist dort, wo sie vorkommt, in der Lebenswelt eine von uns unabhängige Tatsache, ein Stück Realität. Ich will hier nicht verheimlichen, dass es Philosophen wie Nelson Goodman und Hilary Putnam gibt, die das bestreiten, und behaupten, jede Tatsache sei konstruiert, also von uns erzeugt. Es gebe keine von uns unabhängige Tatsachen, obwohl das nicht nur unserem Gemeinsinn ganz und gar widerspricht, sondern auch von Philosophen wie Paul Boghossian und Markus Gabriel zurückgewiesen wird. Angesichts der Klimazerrüttung, der Erderwärmung und des Artensterbens begegne ich solchen Diskussionen mit zunehmender Ungeduld und frage mich, weshalb es in der Philosophie immer nur um den Menschen geht und weshalb sie unfähig ist, die ganze Lebenswelt, mit der der Mensch auf Gedeih und Verderb vernetzt ist, in den Blick zu nehmen, obwohl die Dringlichkeit einer solchen Blickerweiterung ausser Frage steht. Emanuele Coccia schreibt in seinem Buch «Die Wurzeln der Welt» von 2018:

«Von seltenen Ausnahmen abgesehen, beschäftigt sich die Philosophie seit mehreren Jahrhunderten nicht mehr mit der Natur. […] Pflanzen, Tiere, geläufige oder aussergewöhnliche atmosphärische Phänomene, die Elemente und ihre Kombinationen, die Sternbilder, Planeten und Sterne wurden endgültig aus dem imaginären Katalog ihrer liebsten Untersuchungsgegenstände gestrichen.»

Doch zurück in den Garten zum kriechenden Hahnenfuss: Dass er die Pflanze ein Unkraut nenne, entgegnete ich meinem Gesprächspartner, sei keine Tatsache, sondern eine vom Betrachter abhängige Meinung, die ich nicht teile. Zudem begegne ich dem Begriff Unkraut mit zunehmender Skepsis, weil er nur ausdrückt, dass mir die Pflanze nicht genehm ist. Mit ihm sage ich nur «das muss weg» wie ein Ungeziefer oder ein Unding auch. Alles andere, z. B. den Nutzen für benachbarte Pflanzen, den Boden und seine Feuchtigkeit, die Insekten blende ich dabei aus. Im «Handbuch der Biologie» von 1942 sagen die österreichischen Biologen Ludwig von Bertalanffy und Fritz Gessner deutlich:

«Der Begriff Unkraut ist unbiologisch; er zerreisst die gegebenen Zusammenhänge in der Natur und stellt eine scheinbare, unechte Nützlichkeitsbetrachtung, eine mechanistisch-kapitalistische Haltung an die Stelle biologischer Möglichkeiten und gegenseitiger Beeinflussung. Keine Pflanze ist allein für sich in der Natur.»

Leider herrscht die mechanistisch-kapitalistische Haltung bis heute vor. Die industrielle Landwirtschaft hängt am Tropf der Milliarden verdienenden Hersteller von weltweit versprühten Unkrautvertilgungsmitteln. Nicht nur sie mögen das Wort Unkraut, auch die Geistlichkeit verwendete es gern. Unkraut (lateinisch mala herba) bezeichnet in theologischen Texten des frühen Mittelalters unter den Nutzpflanzen wachsende, unerwünschte Pflanzen. Bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts sind Frauen für Geistliche mala herba, quae cito crescit «Unkraut, das rasch wächst», und Prediger drohten über Jahrhunderte den Zuhörenden, wie das Unkraut vom Weizen werde man Fehlbare von den Rechtschaffenen entfernen und ins Feuer werfen.

Wenden wir uns ab vom toxischen Unkrautdenken und vom toxischen Umgang mit Unkraut. Helfen kann uns dabei das Buch «Brennnesseln. Ein Portrait» (Matthes & Seitz 2017), herausgegeben von Ludwig Fischer und Judith Schalansky. Von Ludwig Fischer ist zudem im Frühjahr 2024 das Buch «Naturallianz. Perspektiven für ein verändertes Naturverhältnis» erschienen. Es skizziert fundiert ein neues Verhältnis des Menschen mit der Lebenswelt, wenn er sein Denken von der narzisstischen Fixierung auf den Geist löst und vom Leib ausgehen lässt, der mit dem Anderen der Lebenswelt auf Gedeih und Verderb verbunden ist. Das macht er sachlich, ohne Mythisierungen und Spiritualisierungen, aber auch ohne jenes Spiel mit nicht fassbaren Begriffen, das bei Autoren wie Bruno Latour und Donna Haraway manchmal klingt wie das Klackern tauber Nüsse.