Christian Schmid ist ein Schweizer Mundartspezialist, Autor, Publizist und Performer. Seine wichtigsten Publikationen sind "Botzheiterefaane", "Blas mer i d Schue", "Näbenusse" und "Da hast du den Salat".

Der Meister und sein Sendbote. Eine Skizze

Eben habe ich ein grossartiges Buch fertiggelesen, einen Augenöffner, für mich eine der wichtigsten Lektüren der letzten Jahrzehnte. Geschrieben hat es der Psychiater, Hirnforscher und Literaturwissenschaftler Iain McGilchrist. Der Buchtitel lautet «The Master and His Emissary. The Divided Brain and the Making of the Western World». Obwohl die erste Ausgabe dieses Bestsellers bereits 2009 erschienen ist und die erweiterte Ausgabe 2018, gibt es bis heute keine deutsche Übersetzung. Das mag an seinem Umfang von knapp 600 Seiten liegen oder auch daran, dass sich Modernisten und Postmodernisten sowie wissenschafts- und technikgläubige Zeitgenossen schwer tun dürften damit. Mich hat das Buch so begeistert, dass ich mir bereits McGilchrists noch umfangreicheres Folgewerk von 2021 «The Matter with Things. Our Brain, Our Delusions, and the Unmaking of the World» besorgt habe, das knapp 1600 Seiten umfasst. Martin Grassberger, der Autor des Buchs «Regenerativ. Aufbruch in ein neues ökologisches Zeitalter» von 2024 teilt meine Begeisterung und schreibt:

«Ein Meilenstein für mein Verständnis des Zusammenhangs zwischen unserem evolvierten komplexen Kognitionsapparat und unserer nicht mehr zu leugnenden zivilisatorischen Misere war zunächst das Erscheinen des Buches The Master and his Emissary.»

Nach der Erwähnung von «The Matter With Things» fährt Grassberger fort:

«Dieser letzte Meilenstein, McGilchrists Lebenswerk, hätte es aufgrund seiner inhaltlichen Tragweite nicht nur verdient, in alle Sprachen übersetzt zu werden, sondern sollte als Grundlage in die Curricula jedes sogenannten Bildungssystems dieser Erde aufgenommen werden, denn es ist in seiner Aussage fundamental wie transformativ. Es erklärt hieb- und stichfest, basierend auf neurowissenschaftlichen Erkenntnissen, warum uns unsere Wahrnehmung, unser Verhalten und unsere Denkweise dorthin gebracht haben, wo wir heute stehen: an den Rand eines zivilisatorischen Abgrunds.»

McGilchrist behauptet, zugespitzt und kurz gesagt, dass unsere moderne und postmoderne westliche Psyche schizoide Züge aufweist; er schreibt von einer «culture with prominent ‹schizoid› charactristics». Zustande kommt diese Verschiebung zum Schizoiden, seiner Meinung nach, durch die Tatsache, dass die linke Hirnhälfte in einem über Jahrhunderte dauernden Entwicklungsprozess dominant geworden ist und die rechte in den Hintergrund gedrängt hat. Die linke Hirnhälfte ist, salopp gesagt, die schubladisierende Erbsenzählerin. Im Fokus ihrer Aufmerksamkeit ist das Detail, das sie aus dem Ganzen der Wahrnehmung abstrahiert. Die rechte Hirnhälfte ist demgegenüber bestrebt, den Überblick zu behalten und, was wir wahrnehmen, in einem grösseren Zusammenhang zu verstehen. Die rechte Hirnhälfte ist eher eine emotionale Zweiflerin, die linke eine kühle Rechthaberin.

Die überhandnehmende Dominanz der linken Hirnhälfte, davon ist McGilchrist überzeugt, hat massgeblich dazu beigetragen, dass unsere gegenwärtige Weltsicht mechanistisch, materialistisch und reduktionistisch ist. Eine Kultur mit deutlich schizoiden Charakterzügen, erläutert er, «lockt Menschen auf einflussreiche Posten, welche diese Entwicklung weitertreiben. Und die zunehmende Dominanz von Technologie und Bürokratie auf das Leben hilft, integrativere Arten der Aufmerksamkeit für Menschen und Dinge, die uns helfen könnten, dem Vormarsch von Technologie und Bürokratie zu widerstehen, wegzufressen. Sie erodieren auch die sozialen und kulturellen Strukturen, welche andere Arten des Seins erlaubt hätten. Auf diese Art unterstützen sie ihre eigene Reproduktion.» (Übersetzung Ch. Sch.)

«The Master and His Emissary» hat zwei Teile. Im ersten Teil «The Divided Brain» erläutert McGilchrist die Asymmetrie des Gehirns, was die beiden Hirnhälften tun, die Natur der beiden Hirnhälften-Welten, den ursprünglichen Primat der rechten und den Triumph der linken Hirnhälfte. Im zweiten Teil «How the Brain Has Shaped Our World» entwirft er eine Kulturgeschichte von der vorgeschichtlichen Zeit über die Antike, Renaissance und Reformation, Aufklärung, Romantik und industrielle Revolution bis zur Moderne und Postmoderne. Im Schlusskapitel «The Master Betrayed» wendet sich McGilchrist gegen die ausgetretenen Pfade des wissenschaftlichen Materialismus mit seiner reduktionistischen Sprache und gegen dessen Anspruch, alles wissen und deshalb auch alles beherrschen zu können, d. h. gegen die linkshirnhälftige nur auf das Einzelne gerichtete Erbsenzählerei. Er sei überzeugt, schreibt McGilchrist, «dass Dinge, wie sie praktisch in der wirklichen Welt vorkommen, anders als die Dinge in der Theorie und in unseren Repräsentationen, sich Präzision und Klärung in der Regel widersetzen». Deshalb brauche es den Blick aufs Ganze und eine Sprache, die sich dem Zweifel öffne und mehr auszudrücken vermöge als ein technokratischer und bürokratischer Jargon. Eine Sprache, die eine Verbundenheit mit dem Lebendigen ins Zentrum stellt, nicht auf Ausbeutung und Konkurrenz beharrt und behauptet, dass alles technisch machbar sei.

Sollte der von ihm behauptete Konflikt der Hirnhälften für die ausführlich belegten und beschriebenen Dichotomien sowie die neurologischen und die kulturellen Entwicklungen sich «nur» als metaphorische Wahrheit entpuppen, beschliesst McGilchrist sein Buch, wolle er zufrieden sein: «I have a high regard for metaphor. It is how we come to understand the world.»

Thematisch schliessen Fabian Scheidlers Bücher «Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation» (2015) und «Der Stoff aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen» (2024) an McGilchrist an.

Mich begeistert McGilchrists Buch, weil es klärende Worte findet für ein Unbehagen, das ich seit Jahrzehnten mit mir herumtrage. Ich habe meine akademische Ausbildung in Sprach- und Literaturwissenschaft von 1974 bis 1984 absolviert, in einer Zeit, in welcher der Szientismus die Geistes- und Sozialwissenschaften heimsuchte. Sprache sollte vor allem ein genetisch angelegtes Vermögen des Menschen sein, bei dem die Kultur nur noch eine Nebenrolle spielt. Wie die Teilchenphysik im subatomaren Bereich herumwühlt und forscht – zu welchem Behuf ist mir schon lange nicht mehr klar –, zerbrach die Sprachwissenschaft Sprache in kleinste Teilchen und übte sich mit diesem toten Material in nicht enden wollender paradigmatischer Kombinatorik. Tot war dieser Strukturbaukasten, weil die extremsten Vertreter der szientistischen Sprachwissenschaft die Bedeutung, um die es ja beim Sprechen immer geht, aus ihrem Untersuchungsgegenstand verbannen wollten. In der Literaturwissenschaft wüteten die Strukturalisten und die Dekonstruktivisten. Man verlor sich in halbverdauten Theorien und Detailanalysen für Eingeweihte, Überblick verschaffte einem niemand mehr. Was man tat, konnte kein Laie mehr verstehen. Gerettet haben mich später die Bücher von Claude Hagège, von George Lakoff und Mark Johnson, von Jürgen Trabant, von Michael Tomasello und jüngst das wunderbare Buch «The Language Game. How Impovisation Created Language and Changed the World» (2022) von Morten H. Christiansen und Nick Chater, das leider auch noch nicht auf Deutsch übersetzt ist. In diesem jüngsten Buch flirrt der Szientismus noch als dünnes, kaum zu beachtendes Nebelchen. Sprachen sind primär Kulturgut und ein «Sprachgen» ist ein Hirngespinst, scheint heute wieder so klar zu sein wie die Einsicht, dass der arrogante, rechthaberische Szientismus ausgedient hat. McGilchrist sei Dank, beginne ich mein langsam schwindendes Unbehagen zu verstehen.