Christian Schmid ist ein Schweizer Mundartspezialist, Autor, Publizist und Performer. Seine wichtigsten Publikationen sind "Botzheiterefaane", "Blas mer i d Schue", "Näbenusse" und "Da hast du den Salat".

Einatmen - ausatmen

Am 19. Mai 2024 sitze ich in einer Kirche und höre der Pfingstpredigt zu. Am Ende der Predigt soll eines verstorbenen Freundes gedacht werden, deshalb bin ich mit Bekannten hier. Ich bin kein Kirchgänger. Die Pfarrerin hat «Einatmen – ausatmen» zum Thema ihrer Predigt gemacht. Das ist insofern stimmig, als an Pfingsten der Ausgiessung das Heiligen Geistes gedacht wird. Was in unserem Sprachbrauch, lateinisches spiritus sanctus wiedergebend, als Heiliger Geist gängig geworden ist, übersetzten im frühen Mittelalter einige Geistliche mit wīh ātum «weiher Atem», das sich jedoch nicht durchzusetzen vermochte.

Ausführlich predigt die Pfarrerin, wie das Pfingstwunder die Menschen mit Gott verbindet, der den ersten Menschen seinen Atem eingehaucht und sie so zum Leben erweckt hat. Wie der Atem Menschen zu Wesen Gottes macht. Mit zunehmendem Befremden und irritiert höre ich diesem Monolog zu, in dem ausser Gott und den Menschen niemand vorkommt. Fremd fühle ich mich im Andrang geistlicher Worte, die im hohen Gebäude hallen. Ich verstehe nicht, wovon hier die Rede ist, und bekomme zelebriert, was ich unter keinen Umständen mehr vorgesetzt bekommen will: den Menschen als von Gott inthronisierte Krone der Schöpfung.

Frau Pfarrerin weiss sicher, dass uns Menschen nichts so unmittelbar und ohne Unterlass mit der einen und einzigen Ökosphäre verbindet, die alles umfasst, Anorganisches und Organisches, alle Pflanzen, Tiere und Menschen, alle Kreisläufe und Prozesse, wie der Atem. Sie wird wissen, dass dieselbe Luft, die uns umgibt und die wir einatmen und ausatmen, nicht nur in unserem Körper ist, sondern auch im Boden, im Wasser und in allen Tieren, die sie ebenfalls atmen. Und sie wird wissen, hoffe ich, dass es diese Luft ohne die Pflanzen, die mit und für uns leben, nicht gäbe.

Eine Predigt ist keine wissenschaftliche Abhandlung, aber sie ist auch kein Freibrief, der es erlaubt, Ideologien zu huldigen.

An Pfingsten über das Atmen zu predigen, ohne das Verbindende des Atmens für die ganze Lebenswelt zu thematisieren, halte ich für unakzeptabel. Denn solches Predigen zementiert in unseren Köpfen nur den Unsinn, dass es auf der einen Seite Menschen, die Geschöpfe Gottes, gibt und auf der anderen die Umwelt, die nur dazu da ist, ausgenützt, ausgebeutet und verheert zu werden. Gerade der Atem widerlegt das alttestamentarische «macht euch die Erde untertan». Wir sind, seit es uns gibt, Untertanen der Pflanzen, mit unserem Atmen auf den Sauerstoff, den sie produzieren, angewiesen. Versagten uns die Pflanzen, was uns leben lässt, wären wir tot.

Vielleicht ist kein anderes christliches Fest so sehr ein Fest für die ganze Lebenswelt wie Pfingsten. Das sollte auch zum Ausdruck kommen, wenn man das Atmen spirituell ausdeutet. Das alte lineare christliche Denken hat ausgedient, es muss sich für die Komplexität alles Seienden, des einzigen Garten Eden, in dem alles Lebendige atmet, öffnen. Wäre das möglich, würde ich womöglich zum Kirchgänger.