Christian Schmid ist ein Schweizer Mundartspezialist, Autor, Publizist und Performer. Seine wichtigsten Publikationen sind "Botzheiterefaane", "Blas mer i d Schue", "Näbenusse" und "Da hast du den Salat".

Endlichkeit

Sollen wir über unseren Tod nachdenken? Warum nicht, er sitzt ja in uns drin. Und wenn wir ganz genau hinschauen, merken wir, dass er ständig am Werk ist, nicht nur wenn uns Schuppen auf ein schwarzes Hemd fallen. Unablässig sterben auf unserer Haut und in unserem Körper, wo wir nicht hinschauen können, Zellen ab und werden ersetzt. Wenn wir uns verwunden, bildet sich auf der Wunde eine Kruste, die mit der Zeit abfällt. Wir werden wie ein Schiff, das in voller Fahrt umgebaut wird, rundum erneuert. Altes stossen wir ab oder scheiden es aus. Der Tod ist also subtil am Werk, bis er ganz hervortritt, wenn unser Leben zu Ende ist.

Problematisch ist nur, dass wir meistens nicht an unseren Tod, sondern an unser Sterben denken und uns dann das Selbstmitleid überfällt. Wir sehen uns leiden, in Spitalbetten an Apparaten hängen und wünschen uns, das nicht erleben zu müssen. Fragen wir jemanden nach dem Tod, erhalten wir oft die Antwort: Ich möchte nicht leiden müssen. Verständlich, ich auch nicht. Nur betrifft das das Sterben und nicht den Tod.

Der Tod konfrontiert uns mit unserer Endlichkeit. Wir sind uns unserer Endlichkeit nicht bewusst. Obwohl wir mit dem Tod von anderen konfrontiert werden, mit den Veränderungen in der Welt der Dinge, die auch ein Leben haben und unser Verhalten beeinflussen, tun wir so, als lebten wir in einer Welt, die sein wird, wie sie ist, und zwar nicht nur auf absehbare Zeit. Wir richten sie ein, als gehöre sie uns. Verstünden wir, dass Endlichkeit die Bedingung ist für die in der Ökosphäre sich unablässig vollziehende Metamorphose, veränderten wir unser Verhalten. Verstünden wir Endlichkeit als Existenzbedingung von allem, dächten, handelten, wünschten und planten wir nicht so, wie wir es tun. Wir wüssten dann, dass all unser Tun endlich ist und die Endlichkeitsbe-dingungen für alles, was in der Ökosphäre geschieht, verändert.

Für mich muss mein Tun stimmen, für mich muss es möglichst bequem sein, für mich muss es möglichst viel Gewinn bringen. Wie viel weniger attraktiv wäre solches Handeln, wenn wir wüssten, dass «ich» gar kein Massstab ist im Handlungsraum der Ökosphäre. «Ich» ist auf ihrer Haut nicht einmal eine Schuppe. Die Ökosphäre muss dauern, nicht «ich».  

Im Mundartgedicht «Die Vergänglichkeit» hat Johann Peter Hebel (1760–1826) die Endlichkeit von allem eindrücklich beschrieben. Ein Vater fährt mit seinem Sohn nachts mit einem Fuhrwerk im Wiesental zwischen Steinen und Brombach an der Ruine des Rötteler Schlosses vorbei. Der Bub fragt den Vater, ob ihr Haus, das wie eine kleine Kirche auf dem Berg steht, auch einmal eine Ruine sein werde. Der Vater antwortet:

 

«’s chunnt alles jung und neu, und alles schliicht

sim Alter zue, und alles nimmt en End,

und nüt stoht still. Hörsch nid, wie ’s Wasser ruuscht,

und siehsch am Himmel obe Stern an Stern?

Me meint, vo alle rüehr sie kein, doch

ruckt alles witers, alles chunnt und goht.»

 

Der Vater beschränkt sich nicht nur auf das, was ihnen vor Augen liegt. Er erklärt auch, wie ganz Basel ins Grab sinken wird,

 

                                              «und streckt no do

            und dört e Glied zum Boden us, e Joch,

            en alte Turn, e Giebelwand; es wachst

            do Holder druf, do Büechli, Tanne dört,

            und Moos und Farn, und Reiger niste drin»

 

«Und mit der Zit verbrennt die ganzi Wält», erklärt der Vater seinem Sohn, und vom Himmel oben werde er sehen, «’s isch alles öd und schwarz, / und totestill, so wit me luegt.»

Gelänge es uns, unseren Hochmut abzulegen und unsere Vergänglichkeit auf so eindrückliche Weise zu wissen, wären wir weiser.