Christian Schmid ist ein Schweizer Mundartspezialist, Autor, Publizist und Performer. Seine wichtigsten Publikationen sind "Botzheiterefaane", "Blas mer i d Schue", "Näbenusse" und "Da hast du den Salat".

Gurinerdeutsch

Ggondottubüachtschi heisst das Schulzeugnis im Gurinerdeutschen, d. h. in der Walsermundart, die man im Tessinerdorf Bosco Gurin heute noch hören kann. Das Wörterbuch zeigt, dass die Mundart viel Italienisches und Piemontesisches aufgenommen und zum Teil mit Deutschem vermischt hat. Der norditalienischen Bezeichnung libretto della condotta begegnen wir im Buch «Di corno d’oro» (1993) der Mailänder Autorin Laura Pariani, das bei Wagenbach unter dem Titel «Das Schwert und der Mond» (1998) erschienen ist. In Ggondottubüachtschi erscheint condotta «Betragen, Benehmen» als Ggondottu und aus italienischem libretto ist ein deutsches Büachtschi geworden, die Verkleinerungsform von Büach.

Über das Wort Ggondottubüachtschi stolperte ich im Buch «Aus der Mundart von Gurin. Wörterbuch der Substantive von Bosco Gurin» von 2014. Gesammelt wurden die Wörter von Emily Gerstner-Hirzel (1923–2003), die sich auch mit anderen Publikationen um die Walserkultur in Bosco Gurin verdient gemacht hat. Zehn Jahre lang half ihr Cornelia Pfiffner-Tomamichel beim Sammeln. Leider konnte Frau Gerstner-Hirzel ihr Werk nicht selbst zu Ende führen und es brauchte die Hartnäckigkeit von Frau Pfiffner-Tomamichel und viele Helfer und Unterstützer, damit es im Verlag Armando Dadò in Locarno erscheinen konnte.

Für mich verbinden sich mit «Aus der Mundart von Gurin» viele Geschichten. Erstens lernte ich einen Teil des traditionellen Walserwortschatzes bei meiner Arbeit am Sprachatlas der deutschen Schweiz intensiv kennen, vor allem die Bezeichnungen der Gefässe und Körbe. Den Rückentragkorb nennt man in Bosco Gurin Baargil (piemontesisch barghéi) oder Tschefru (piemontesisch sciüvéra), das Rückentraggefäss Brantu oder Puntschi, das Rückentraggestell Gabalu. Ein Ohrenöffner für die urtümliche Kraft und den herben Reiz dieser besonderen Sprache waren für mich die walserdeutschen Gedichte von Anna Maria Bacher aus dem norditalienischen Pomattertal (Val Formazza). Im Jahr 1947 in Gurfälu (Grovella) geboren, wurde sie am Celleggio Rosmini in Domodossola zur Lehrerin ausgebildet und unterrichtete bis 1992 im 200-Seelen-Dorf Zumstäg (Ponte). Weil Heinz Holliger und andere Komponisten Texte von ihr vertonten, wurde sie über ihre Sprachgemeinschaft hinaus bekannt. Holliger bezeichnete die Begegnung mit den Klängen der Sprache Bachers als «ein Naturereignis, wie eine gewaltige Lawine oder ein unglaubliches Gewitter».

Zu einem bleibenden Erlebnis wurde für mich die Begegnung mit Cornelia Pfiffner-Tomamichel. Ihr Vater, der Grafiker, Illustrator und Maler Hans Tomamichel (1899–1984), der Schöpfer der Knorrli-Figur, war, obwohl er in Zürich lebte, tief verbunden mit der Kultur seines Heimatortes. Jedes Jahr verbrachte die Familie Wochen in Gurin und die Kinder erlebten so das Dorf mit seiner Sprache als zweite Heimat. Im Jahr 2001veranstaltete das Walserhaus Gurin eine Ausstellung zu Hans Tomamichel; Sohn Leonhard war damals Präsident des Walserhauses. Von ihm und seiner Schwester Elisabeth erhielt ich die notwendige Unterstützung und das Material für einen Radiobeitrag über ihren Vater, in dem man ihn sprechen hört, denn dem Ausstellungskatalog ist eine CD beigefügt, auf der Hans Tomamichel Texte in Gurinerdeutsch spricht. Der erste Text «Ds Jaar üss und e» wurde bereits 1939 auf der Schallplattenserie «Stimmen der Heimat» des Phonogrammarchivs der Universität Zürich für die damalige Landesausstellung herausgegeben.

Im Jahr 2009 erschien «Stimmen der Heimat» auf CD und Hans Tomamichels Stimme erinnerte mich an das selten gehörte Gurinerdeutsch. Für die Mundartsendung «Schnabelweid» wollte ich jemanden in dieser Sprache erzählen lassen. Elisabeth Flueler-Tomamichel verwies mich an ihre Schwester Cornelia Pfiffner-Tomamichel, die nach ihrem Arbeitsleben wieder in Bosco Gurin zuhause ist. Das entpuppte sich als wahrer Glücksfall, denn Frau Pfiffner-Tomamichel ist eine geborene Erzählerin. Mit ihr sprach ich über das Gurin von gestern und das Gurin von heute und machte daraus zwei prachtvolle Sendungen, in denen Gurinerdeutsch die Hauptrolle spielt. Eine davon ist hier zu hören:

https://www.srf.ch/audio/dini-mundart-schnabelweid/d-cornelia-pfiffner-zellt-gurinertiitsch?id=10068...

Mein Buch «Chäferfüdletroche» mit Wort- und Redensartengeschichten erschien 2023. Cornelia Pfiffner-Tomamichel hat es gekauft und sich so darüber gefreut, dass sie mir «Aus der Mundart von Gurin» geschenkt hat. Nun ziert es meine Wörterbuch-Sammlung und ich kann in ihm stöbern, so lange und so oft es mir gefällt, und mich an den Wörtern und den kleinen Texten freuen, die es zu vielen Wörtern gibt. Zu Fritagg «Freitag» heisst es zum Beispiel:

«Enama Fritagg hentsch kChia ned afa üisslaa un send öw net met-na ggfaaara, waga ema Fritagg escht Isaherrgutt ggschtorba. – An einem Freitag liess man die Kühe nicht zum ersten Mal auf die Sommerweide und führte sie auch nicht in einen andern Heustall, denn an einem Freitag ist unser Herrgott gestorben.»