Christian Schmid ist ein Schweizer Mundartspezialist, Autor, Publizist und Performer. Seine wichtigsten Publikationen sind "Botzheiterefaane", "Blas mer i d Schue", "Näbenusse" und "Da hast du den Salat".

Heimat Gotthelf noch einmal!

In der Beilage «Bücher am Sonntag» der «NZZ am Sonntag» vom 31. März 2024 erschien der Artikel «Gstürm und Gwunder» von Linus Schöpfer, der zwei neu erscheinende Gotthelf-Ausgaben zum Thema hat. Im ersten Abschnitt will uns Linus Schöpfer Lützelflüh als Postkartendorf verkaufen. Dabei fährt der mit dem Zug in Lützelflüh Ankommende vor die grossen Fabrikgebäude der ehemaligen Hafermühle. Und die Dorfstrasse ist alles andere als idyllisch. Illustriert ist der Artikel mit einem Anker-Bild. Will ich Gotthelf in diesem Rahmen der geistigen Landesverheimeligung präsentiert bekommen? Nein!

Zwei neue Gotthelf-Ausgaben sind also in Arbeit. Seit Jahrzehnten die an der Universität Bern unter der Leitung von Christian von Zimmermann entstehende historisch-kritische Gesamtausgabe, die insgesamt Millionen und deren einzelne Bände um die zweihundert Franken kosten. Über ein germanistisches Mammutprojekt dieser Art entscheidet die Politik; kaufen werden diese Bücher grosse Bibliotheken und einige interessierte Privatpersonen. Viel mehr als fünfhundert Exemplare der Werke werden wohl kaum verkauft werden in Anbetracht der Tatsache, dass man, was im Rahmen dieses Projekts publiziert wird, in Kürze auch auf dem Internet wird einsehen können. Dass es eine Gesamtausgabe wird, steht in Frage, weil ein Spätgeborener des Bitzius-Clans sich weigert, gewisse Texte herauszugeben. Gewöhnliche Sterbliche sind mit dieser Gotthelf-Ausgabe nicht gemeint und können sie getrost vergessen.

Ganz anders ist es um die zweite Ausgabe bestellt. Sie ist für alle, die Gotthelf lesen möchten. Seit dem Herbst 2023 erscheint im Diogenes Verlag die «Zürcher Leseausgabe» von ausgewählten Werken Gotthelfs unter der Leitung des Germanistikprofessors Philipp Theisohn. Ein Band dieser Ausgabe kostet zwischen fünfunddreissig und fünfundvierzig Franken, bewegt sich also im Rahmen üblicher Buchpreise. Aufmerksam geworden bin ich auf diese Ausgabe, weil Theisohn uns im ersten Band nicht den Gotthelf des Heimelig-Unheimeligen, sondern den des Unheimlichen und Bösen präsentiert. Er beginnt mit der «Wassernot im Emmental», es folgen die vier Erzählungen «Wie fünf Mädchen im Branntwein jämmerlich umkommen», «Wie Joggeli eine Frau sucht», «Die schwarze Spinne», «Elsi, die seltsame Magd» und zehn Kalendergeschichten, darunter «Der bekehrte Mordiofuhrmann» und «Benz am Weihnachtsdonnerstag», zwei wirklich böse Stücke, die Gotthelf seinen Leserinnen und Lesern um die Ohren haut.

Als manchmal begeisterter, manchmal zürnender und manchmal sogar angewiderter Gotthelf-Leser – ich nenne nur den «Herr Esau» –, der sich Gotthelf zu Gemüte geführt hat: Romane, Erzählungen, Kalendergeschichten, Sachtexte und Predigten, kann ich mit der Theisohn-Ausgabe im Ganzen gut leben, ausser dass die Buchumschläge mit Altemmental-Abziehbildchen geschmückt sind. Mich beschäftigen nur zwei Fragen:

Wen vermag das Erzählen eines pfarrherrlichen Autors, der sich nicht scheut, seitenlang zu predigen und einem hoffnungslos veralteten Landberndeutsch viel Raum gibt, der den patriarchalen Einzelhof als die höchste aller Lebensformen ansieht, dem Dorf kaum Gutes zutraut, für die Stadt nur Spott übrighat, der alles Fremde und im Alter alles Demokratische negativ beurteilt, heute noch so zu packen, dass er oder sie mehrere hundert Seiten liest? Seien wir doch ehrlich, heutzutage geniessen die meisten ihren Gotthelf vom weichen Kinosessel aus und vor der Freilichtspielbühne auf der Moosegg oder anderswo mit dem hehren Kranz der Berge im Hintergrund. Mich zogen die Geschichten als junger Leser in Bann, weil ich als Knabe noch mit Bauersleuten zu tun hatte, die der Gotthelf-Welt entsprungen schienen: Tante Kläri in der russgeschwärzten Küche vor dem Holzherd in einer Dampfwolke stehend, Götti Christen, der mich im Winterwald einen Schluck aus seiner Schnapsflasche nehmen liess und sich vor Lachen krümmte, als ich nur langsam wieder zu Atem kam. Der Knecht Fritz, der seinen Schigg während des Mittagessens auf dem Brunnenstock deponierte. Die Mundart, die Gotthelf schrieb, hörte ich eins zu eins im Bauernalltag: die Flüche, Redensarten und Schimpfreden. Selbstverständlich arbeitete ich in einer Bauernwelt mit Traktoren, Bindemähern und Dreschmaschinen, aber das Gotthelfsche drang noch sicht- und hörbar durch. Heute ist nichts mehr da oder nur noch museal Aufgehübschtes. Wie liest man Gotthelf in einer Welt mit Grosstraktoren voll Elektronik, Waschmaschinen, Prunkküchen mit Induktionsherden, mit Melkrobotern und Futterchips in den Hälsen von edlen Reitpferden für das Freizeitvergnügen? Ich weiss es nicht.

Wenn, wie ich vermute, nur noch wenige Gotthelf lesen, weshalb braucht es die Theisohn-Ausgabe? Es gab doch die Diogenes-Ausgabe von Walter Muschg. Hätte die nicht gereicht? Eine Wiederauflage der Muschg-Ausgabe war angedacht, sagt der Herausgeber, aber es gab keine brauchbaren Druckvorlagen, und diese neu herstellen zu lassen, wäre teuer geworden. Zudem entdeckte Theisohn Kurioses, das er gerne richtigstellte, als er, vor allem auch für die Glossare, das «Schweizerische Idiotikon» konsultierte.

Wen von den übriggebliebenen Lesern und Leserinnen interessiert es, ob es in der «Schulmeister»-Erstausgabe heisst «trocken wie ein Käferf …» für «trocken wie ein Käferfüdle», «trocken wie ein Sägemehl» in einer späteren deutschen Ausgabe oder ob der Abschnitt mit dieser Redensart ganz fehlt wie in meiner Ausgabe der Büchergilde Gutenberg mit den eindrücklichen Holzschnitten von Emil Zbinden? Das ist für die meisten Hans was Heiri. Und Gotthelf selbst, ergänzt Theisohn, war wohl eine definitive Gestalt seiner Texte nicht allzu wichtig.

Wie Philipp Theisohn bin ich der Meinung, dass sich das Lesen guter Gotthelf-Geschichten heute noch lohnt, weil sie eine unerhörte Wucht entfalten können und weil erbarmungslos das Gespinst einer Alltagswelt bis in die hintersten Ecken von Güte und Gemeinheit ausgeleuchtet wird. Not täte jedoch eine gescheite historische Einführung in die Lebensrealitäten dieser verschwundenen Welt. Wichtig wäre auch zu zeigen, dass sich die Mundartliteratur der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie die geistige Landesverteidigung ohne das Vorbild Gotthelf gar nicht denken liessen. Das wäre für unser literarisches Schweizer Seelenheil weit mehr von Nutzen als die Nachwörter von Autoren und Autorinnen, von denen einige wohl klingende Namen, aber mit Gotthelf eigentlich nichts am Hut haben. Eines brauchen wir ganz gewiss nicht: einen in den Rahmen einer geistigen Landesverheimeligung gezwängten Gotthelf!