Christian Schmid ist ein Schweizer Mundartspezialist, Autor, Publizist und Performer. Seine wichtigsten Publikationen sind "Botzheiterefaane", "Blas mer i d Schue", "Näbenusse" und "Da hast du den Salat".

Küchengeschichte

Gibt es eine interessantere Geschichte als diejenige der Küche und des Kochens? Nein! Es ist die wichtigste und die menschlichste, denn ohne Essen könnten wir nicht leben. Küche und Kochen betreffen den Kern unserer biologischen Existenz und ohne diese gäbe es unsere vielgepriesene geistige Existenz, für die sich Philosophie und Religion fast ausschliesslich interessieren, nicht. Zudem ist die Küche derjenige Raum, in dem die Menschen miteinander reden lernten, denn nur in diesem Raum gab es Licht, wenn es dunkel war, Wärme, wenn es kalt war, und etwas Gekochtes zu essen, wenn einen hungerte. In der Küche, wo man auf dem Boden oder um einen Tisch sass, entstand das Fundament der Demokratie. Sie ist die Frucht des miteinander Redens und Essens.

In Buchhandlungen sollten deshalb die mit «Geschichte» gekennzeichneten Regale überquellen mit Büchern, welche die Geschichte des Kochens und des Essens erzählen. Stattdessen reiht sich Buch an Buch mit Kriegsgeschichte, vom Peloponnesischen Krieg bis zu den heutigen Kriegen. Biografien von Kriegsherren, Staatsoberhäuptern, Diplomaten und Politikerinnen stehen Rücken an Rücken. Geschichten der Nationen und der Kontinente stehen neben Geschichten von wichtigen Epochen. In all diesen Geschichten geht es um Einzelnes und Trennendes, um dieses und jenes. Die Geschichte des Kochens und Essens verbindet aber alle Menschen.

Begeben wir uns in einer Buchhandlung von der historischen Abteilung in die Abteilung für Kochbücher, finden wir alle Möglichkeiten des Kochens zwischen zwei Buchdeckeln angeboten: wir können italienisch, asiatisch, südamerikanisch, altrömisch, aramäisch, vegetarisch, vegan, makrobiotisch, diabetisch, ketogen oder weiss der Kuckuck wie kochen. Aber Bücher über die Geschichte des Kochens und des Essens suchen wir auch hier vergeblich. Mich hat diese schreiende Lücke vor Jahren in einer grossen Buchhandlung so geärgert, dass ich das Buch «Da hast du den Salat. Geschichten zur Sprache und Kultur der Küche» (Cosmos Verlag 2016) geschrieben habe.

Weshalb es neben wissenschaftlicher Literatur zur Geschichte der Küche und des Essens so wenige Bücher gibt, die dieses Gebiet auf ansprechende und kompetente Art und Weise für ein breites Lesepublikum behandeln, hat meines Erachtens zwei Hauptgründe: Die Geschichte des Kochens und des Essens interessiert uns, das breite Lesepublikum, nicht. Viel lieber lesen wir, wie Menschen, seitdem es sie gibt, einander totschlagen, unterwerfen, übervorteilen und plagen. Wir interessieren uns brennend dafür, wie sogenannte «grosse» Figuren der Weltgeschichte, seien es Männer oder Frauen, lebten und starben. Was die Menschheit friedlich vereint, das Kochen und das Essen, scheint nicht der Rede oder des Schreibens wert zu sein.

Und damit komme ich zum zweiten Grund: Die Küche ist traditionell der zentrale Raum der Frauen. Das Essen zuzubereiten war und ist heute meistens noch ihre Pflicht. Damit verloren die Küche und das Kochen für Männer schon früh jegliches Interesse und die Geschichtsschreibung war Jahrhunderte lang männlich. Die Frau strebt zum Herd, der Mann hinaus, und Letzteres ist schliesslich das Einzige, das zählt. So sah man das. «Der Mann gehört in den Krieg, das Weib an den Heerd – das ist meine deutsche Meinung», lesen wir in der Novelle «Die Kreuzfahrt» von 1844. Und Constantin Frantz erläutert 1870 in seiner «Naturlehre des Staates», wie die Pflanze am Boden hafte, «so häng[e] die Frau an dem häuslichen Herd, während der Mann seiner Natur nach ins Weite streb[e]».

Wir sind sehr gut unterrichtet darüber, wie sich Krieger mit Speeren und Spiessen totstachen, mit Streitäxten totschlugen und mit Pfeilen, Armbrustbolzen und Kugeln aus Feuerwaffen totschossen. Aber wie der Alltag in einer Küche aussah, in der ein oder mehrere offene Feuer brannten, davon erzählt uns niemand. Die wahren Heldinnen des Alltags waren die Frauen, in grossen Herrenküchen auch die Männer, die aus diesen Rauchhöllen – nicht umsonst nennt man die Hölle Teufels Küche – Leckeres zauberten. Nicht nur das Feuer auf dem Herd brannte in der einfachen Küche, über dem Tisch blakte der Kienspan oder russte eine Tranfunzel. Während Jahrhunderten assen die Menschen, was in Feuer, Russ und Rauch entstand. Die Geschichte irgendeines Aschenbrödels, das Holz in und Asche aus der Küche tragen musste, wäre, stellte man das Leben ins Zentrum unseres Interesses, wohl wichtiger zu wissen als diejenige Napoleons. Das Aschenbrödel arbeitete für das Essen und damit das Leben anderer, Napoleon liess vor allem andere sterben für sich und seine Macht.

Wir bestaunen Schlösser, Paläste und Kirchen, deren Prunk in Tausenden von Büchern dargestellt und erläutert wird. Aber nur selten schlendern wir in einem Ortsmuseum durch eine Rauchküche, die uns nicht viel sagt, weil wir keine Ahnung haben, wie man dort arbeitete, wie man Gemüse rüstete, Fleischgerichte herstellte, guten Essig und glasklare Sülzen machte und was für Geräte dem Küchenpersonal zur Verfügung standen. Wie ging man mit dem Wasser um, bevor es durch eine Leitung in die Küche floss, wo holte man es her, wo war der Wasservorrat in der Küche und was machte man mit dem Abwasser? Was für Abfälle entstanden, und wohin ging man damit? Uns sollte nicht interessieren, ob das Ei oder das Huhn zuerst da war, sondern weshalb Hühner oft in der Küche überwinterten und ob es Brot vor dem Brei gab oder umgekehrt. Fragen sollten wir uns, ob die Römer auch schon Salat assen.

Die Geschichte der Küche und des Kochens ist das Aschenbrödel der Geschichtsforschung und es ist höchste Zeit, dass wir sie aus der Nichtbeachtung ans Licht holen und uns ihrer zentralen Bedeutung bewusstwerden. Es ist DIE Geschichte, welche die Menschen vereint, denn wir sind alle Kochende und Essende.