Christian Schmid ist ein Schweizer Mundartspezialist, Autor, Publizist und Performer. Seine wichtigsten Publikationen sind "Botzheiterefaane", "Blas mer i d Schue", "Näbenusse" und "Da hast du den Salat".

wīh atum

Als Mönche sich im frühen Mittelalter daran machten, lateinische Bibeltexte ins Deutsche zu übersetzen, schrieben einige von ihnen für spiritus sanctus heilag geist, das in der neuhochdeutschen Form heiliger Geist heute noch in Gebrauch ist. Im bairisch-alemannischen Raum übersetzten einige den Ausdruck jedoch mit wīh atum, was heute so viel wie weiher oder geweihter Atem heissen würde. Im «Ezzolied» des 12. Jahrhunderts lesen wir: «der heilige âtem ist der wint, der vuoret (führt) unsih (uns) an den rehten sint (auf den rechten Weg)». Heiliger Geist setzte sich jedoch durch und weiher Atem verschwand, obwohl im lateinischen spiritus sanctus und im griechischen pneuma hagion der Bezug zum Atem deutlich ist.

In der deutschen Sprache hat sich das Wort Geist, das im religiösen und im philosophischen Diskurs von grosser Bedeutung ist, ganz von der Vorstellung des Atems getrennt. Im Duden-Buch «Die deutsche Sprache» von 2014 hat Geist zwei Einträge. Im ersten sind als Bedeutungen angegeben: a) denkendes Bewusstsein des Menschen, Verstandeskraft, Verstand; b) Gesinnung, innere Einstellung, Haltung. Im zweiten als an Wesen gebundener Gebrauch: a) Mensch im Hinblick auf seine geistigen Eigenschaften; b) geistige Wesenheit; c) Gespenst, Spukgestalt.

Hat die Entkoppelung von Geist und Atem an der Entkörperlichung, der Idealisierung und Idolisierung des Geistes zu Ungunsten unserer Körperlichkeit mitgewirkt? Ist diese Entkoppelung nur möglich geworden, weil wir unseren geistigen Atem auf Schriftträger auslagern konnten? Trennen wir Körper und Geist und heben uns dabei über die Lebenszusammenhänge in der Ökosphäre hinaus, vergessen wir, dass unser Geist nur arbeiten kann, solange wir atmen, dass wir denken, weil wir auch atmen. Die biologische Basis unseres Denkens ist nicht aufhebbar. Begreifen wir unser Denken grundsätzlich als vom Atmen abhängig, müssen wir den Idealismus als eine Fehlentwicklung bezeichnen. Emanuele Coccia schreibt in seinem Buch «Die Wurzeln der Welt» (2020):

«Von seltenen Ausnahmen abgesehen, beschäftigt sich die Philosophie seit mehreren Jahrhunderten nicht mehr mit der Natur: Das Recht, sich mit der Welt der Dinge und der nichtmenschlichen Gegenstände zu befassen und sich darüber zu äussern, fällt grundsätzlich und ausschliesslich anderen Disziplinen zu. Pflanzen, Tiere, geläufige oder aussergewöhnliche atmosphärische Phänomene, die Elemente und ihre Kombinationen, die Sternbilder, Planeten und Sterne wurden endgültig aus dem imaginären Katalog ihrer liebsten Untersuchungsgegenstände gestrichen. Mit dem 19. Jahrhundert fiel die Erfahrung des Einzelnen in ganz grossen Teilen einer Zensur zum Opfer: Seit dem deutschen Idealismus war alles, was man als Geisteswissenschaften bezeichnet, eine so deprimierende wie verzweifelte Anstrengung, aus dem, was der Erkenntnis zugänglich ist, jeden Naturbezug zu tilgen.»

Wollen wir denkend und handelnd der Klimazerrüttung begegnen, brauchen wir im Sinne des Wortes einen langen Atem. D. h. wir müssen von der Optik, die ausschliesslich auf unsere im Geist entwickelten Zwecke ausgerichtet ist und dem Raubbau an der Ökosphäre keine Beachtung schenkt, ablassen und sie mit den Bedürfnissen unseres Atmens in Einklang bringen. Im Atem durchdringt uns die Ökosphäre mit ihren Kreisläufen und Netzwerken. Uns Ziele zu setzen, die das Weiterbestehen der Ökosphäre gefährden, wird unser Weiterleben und damit auch unser Weiterdenken verunmöglichen. Millionen von Ökototen und Ökoflüchtlingen zeigen uns heute schon unsere Zukunft.

Leider verstehen Wirtschaft und Politik das Wort umweltverträglich heute immer noch als «ungebremste Wachstumswirtschaft wie bisher im pseudogrünen Kleid». Ich halte z. B. Elon Musk für einen geradezu absurden Unternehmertyp, der eigentlich in die Zeit von Henry Ford gehört. Er überschwemmt die Welt mit Elektroautos, obwohl der Individualverkehr keine Zukunft hat. Seiner Gier opfert man in Deutschland ganze Wälder, damit er weitere Fabriken aufstellen kann. Er füllt das All in grossem Stil mit Weltraumschrott, betreibt Weltraumausflüge als Spass für Reiche und träumt von Kolonien auf dem Mars. Als Ökosphärenzerstörer erster Güte scheffelt er Milliarden.

Solange wir solche Menschen bewundern und gewähren lassen, verschlagen wir uns unseren Atem.