Christian Schmid ist ein Schweizer Mundartspezialist, Autor, Publizist und Performer. Seine wichtigsten Publikationen sind "Botzheiterefaane", "Blas mer i d Schue", "Näbenusse" und "Da hast du den Salat".

Was geschieht

Wir sind daran, die letzten Hoffnungen auf das Erhalten einer lebbaren Welt schneller zu verlieren, als ich dachte. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass ein Staatsoberhaupt, das der Globalisierung, welche den Graben zwischen Arm und Reich vertieft und die Ökosphäre zu vernichten droht, mit der Idee einer streng überwachten nationalen gated community begegnen will, einen mörderischen Krieg vom Zaun bricht, um die widerspenstige Realität seiner Idee zu unterwerfen.

Als ich jung war, d. h. vor gut fünfundfünfzig Jahren, und das Wort Globalisierung noch nicht zum Alltagswortschatz gehörte, sehnte ich mich nach einer Öffnung vom hergebrachten Lokalen mit all seinen Beschränkungen zu einer weiteren, modernen Welt mit all ihren Versprechen. Dieses Lokale war vor allem die kleinbürgerliche Welt der Eltern, von zwei Weltkriegen geprägt, mit ihrer Obrigkeitsgläubigkeit, mit ihrer Vorstellung von Selbstbescheidung, Fleiss und Ordnung. Das alles wirkte in der Welt der 1960er-Jahre, in die wir hineinwuchsen, eng, alt und verbraucht. Die Welt war voll neue Dinge, vom Plattenspieler bis zum Auto. Wir hörten Jazz, Pop und Rock, schauten uns Filme an, reisten ans Meer, wenn auch nur mit dem Fahrrad. Die Zukunft verhiess Möglichkeiten, von denen die Eltern in unserem Alter nie zu träumen gewagt hätten. Aber der Richtungspfeil war klar, er war vom Alten und Lokalen zum Modernen und der weiten Welt gerichtet. Wir schauten in den 1960er-Jahren mit grosser Zuversicht in die Zukunft, trotz nuklearer Bedrohung, trotz Kriegen in Indochina und Afrika und obwohl der Club of Rome vor dieser Zukunft zu warnen begann. Unsere Zukunft stellten wir uns offener, weltweiter und farbiger vor, lange ohne zu fragen wer für diese Zukunft welchen Preis bezahlt – bis Ernst Friedrich Schumacher das Buch «Small is beautiful» (1973) schrieb und bis zum Waldsterben in den 1980er-Jahren. Die erträumte Zukunft bekam Risse.

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und nachdem sich auf der ganzen Welt eine Gemeinschaft superreicher Oligarchen etabliert hatte, die ihre weltweiten Geschäfte mit mafiaähnlichen Strukturen abwickeln, setzte sich bei diesen Oligarchen die Überzeugung durch, dass es vor allem darum gehen solle, ihre Interessen in die Zukunft zu retten und dass diese Zukunft nicht mehr für alle Menschen offen sein könne. In Russland, um auf dieses Land zurückzukommen, brachte die Wende einigen Wenigen sagenhaften Reichtum, vielen nichts. Putin konnte also die Russen und Russinnen nicht in einem Wohlfahrtsstaat einen, in dem fast alle ein wenig profitieren konnten, wie es in China in einem wirtschaftlich liberalisierten Überwachungsstaat gelang. Zudem schlägt seit der Jahrtausendwende die Ökosphäre zurück, die Klimazerrüttung ist wissenschaftliches Faktum und für alle sichtbar, für immer mehr lebensbedrohend. Die Gemeinschaft der Oligarchen leugnet die Klimazerrüttung. Putin hat sich deshalb entschlossen, die Russinnen und Russen im Projekt einer nationalen, gegen aussen und innen gut bewachten gated community zu einen, die als Idee nicht durch die Klimazerrüttung bedroht ist. Diese gated community wird als Schutz gegen die Globalisierung propagiert, die konservative russische oder grossrussische Werte gefährden und pervers sein soll. Garantieren kann dieses System ohne Nachfolgeregelung nur Putin. In Putins System zeigt der Richtungspfeil von der globalen Welt weg gegen die nationale gated community. Die ist aber nicht mehr gelebte lokale Realität, sondern ein ideologisches Konstrukt. Um diesem Konstrukt Nachdruck zu verschaffen, führt Putin Krieg gegen die Ukraine. Und der politische rechte Rand von Europa bis in die USA hält zu Putin, weil auch er den Traum von nationalen gated communities träumt und die Klimazerrüttung leugnet.

Verheerend ist dieser Krieg für die Ukrainer und Ukrainerinnen. Seine Folgen für den Handel und die weltweite Ernährung sind bis jetzt nicht absehbar. Ungleich grösser werden die Folgen für unseren Kampf gegen die Klimazerrüttung sein, denn der Krieg lähmt Vorhaben und spaltet die Welt, die geeint vorgehen sollte. Wir verlieren durch den Krieg unsere Zukunft.