Christian Schmid ist ein Schweizer Mundartspezialist, Autor, Publizist und Performer. Seine wichtigsten Publikationen sind "Botzheiterefaane", "Blas mer i d Schue", "Näbenusse" und "Da hast du den Salat".

Was müssen wir uns versagen, damit wir nicht versagen?

Vor allem den kindlichen Wunsch, dass es wieder so werde wie vorher. Er zielt auf eine existenzielle Unbeschwertheit, darauf, dass ich im Rahmen meiner Möglichkeiten in der kapitalistischen Welt tun kann, was nicht verboten ist: essen und trinken, was ich will, fahren und fliegen auf jede Art und Weise, wie oft und wohin ich will, Waren herstellen, konsumieren, brauchen und fortwerfen, wie es mir passt. Es ist diejenige Unbeschwertheit, die uns die profitierenden Prediger der Konsum-, Wohlstands-, Überfluss- und Wegwerfgesellschaft gelehrt haben und immer noch lehren wollen.

Die Religion des Konsumismus ist nicht alt. Meine Eltern, in der Zeit des Ersten Weltkriegs geborene Kleinbürger, kannten sie noch nicht, wuchsen im Alter widerstrebend in sie hinein und trauten ihr bis zu ihrem Tod nicht. Der grösste Teil der Menschheit zählt nicht zu den Gläubigen dieser Religion, weil ihnen die Mittel fehlen. Sie können als Missachtete oder nicht Beachtete nur zuschauen und auch hungern. Uns hat sie das Hirn verdreht, uns blind gemacht für unsere Übergriffe auf alles andere. Manche glauben, diese Blindheit sei genetisch in uns angelegt. Wir akzeptieren mittlerweile sogar die Demokratie nur noch als Garant persönlicher Freiheiten. Gemeinschaft und Gemeinwohl – so hat es Margaret Thatcher einst vorgesagt – gibt es nicht, auch in Corona-Zeiten nicht. Dabei sollte es immer um sich selbst und alles andere auch gehen, in einer Pandemie und bei der Klimazerrüttung.

Ich denke das, während ich an einem nebligen Spätnovembertag bei stark zunehmenden Corona-Fällen, auf die Belastungsgrenze der Intensivstationen zugehenden Einweisungen von schweren Fällen und zunehmenden Todesfällen im nahen Wald, d. h. in dem, was von ihm noch übriggeblieben ist, unterwegs bin. Wo bin ich und was müssen wir tun, um nicht zu versagen, frage ich mich.

Vieles fährt mir durch den Kopf: Sich impfen lassen in einer Pandemie, es sei denn, es liegen triftige medizinische Gründe vor, es nicht zu tun. Im Normalfall ist impfen eine rein rationale Sache, denn es gibt nur impfen, genesen oder sterben. In meinem Alter ist Genesen keine gute Option. Social-Media-Geschichten, ob Verschwörungstheorien oder Fake Science, und pandemischer Patriotismus mit Treicheln und Hirtenhemden helfen gar nichts.

Was die Zerstörung der Ökosphäre und die Klimazerrüttung betrifft, liesse sich eine Kette von Geboten und Verboten formulieren: weniger oder gar kein Fleisch mehr essen, nicht mehr Auto fahren, nicht mehr fliegen, keine Kreuzfahrten machen, nachhaltig konsumieren usw. Ob das hilft? Zuerst müssen wir unser verdrehtes Hirn neu richten. Wir müssen vom Podest, auf dem wir zu stehen meinen als Krone der Schöpfung, heruntersteigen, bekannten religiös-philosophischen Boden verlassen und mit allen Konsequenzen, die das mit sich bringt, auch geistig in die einzige und eine Ökosphäre eintreten, von der wir ein Teil sind mit allen anderen Lebewesen, mit allen Kreisläufen und Netzwerken, in der Materie, aus der wir sind, verbunden mit dem Kosmos: Sternenstaub! Wenn wir das verstehen, fällt es uns vielleicht weniger leicht, immer ich, ich, ich zu sagen. Wir behausen Millionen, wenn nicht Milliarden von Kleinstlebewesen. Das Wasser in uns und die Luft, die durch uns hindurchgeht, sowie die Atome, die unseren Körper aufbauen, haben eine lange Geschichte und waren vorher, muss man annehmen, in anderen Lebewesen. Wir sind Teil einer ewigwährenden ökosphärischen Metamorphose. Wo ist da ich?

Ich bin entsetzt und auch fasziniert, wie rasch sich der Wald, den ich durchstreife, verabschiedet. Fast jeden Tag sind neue Bäume umgefallen, grosse und mittelgrosse Eichen, Buchen und Tannen. Immer neue schmale Wege sind mit rotweissem Band abgesperrt, weil durch das Gewirr der liegenden Stämme kein Durchkommen mehr ist. Wie auf- oder untergehende Sonnen stehen ihre Wurzelteller. Überall liegen Haufen von Stämmen und Hügel von Strünken und Ästen. Der Wald, der dastand, geht. Kommt ein neuer? Nicht, wenn er wie die Ökowüsten der Agrarflächen Umwelt bleibt, Beiwerk, das wir nach unserem Belieben ausbeuten und zerstören dürfen. Nur wenn wir fähig sind, diese eine und einzige Ökosphäre zu denken und in ihr und für sie zu handeln, in allem, was wir tun, und mit aller Konsequenz, könnte es sein, dass wir nicht versagen. Sicher bin ich nicht, denn den Gott der grünen Erde gibt es nicht mehr.