Christian Schmid ist ein Schweizer Mundartspezialist, Autor, Publizist und Performer. Seine wichtigsten Publikationen sind "Botzheiterefaane", "Blas mer i d Schue", "Näbenusse" und "Da hast du den Salat".

Was meine ich, wenn ich «ich» sage?

Die einfache Antwort: Nicht du, er, sie oder es in einer Alltagssituation, in der ich mich verhalte oder handle. Ich habe einen Namen, den auch andere haben können, ein Geburtsdatum, das auch andere haben, Eltern, die auch andere haben, denn ich habe Geschwister, und einen Wohnort. Alles zusammen trifft jeweils nur auf mich zu. Dann wird es bereits komplizierter, auch wenn wir durchaus noch beim Alltäglichen bleiben. Behaupte ich im Dezember 2021, ich sei im März 1961 auf dem Weissenstein gewesen, ist die Frage, ob mein damaliges Ich dasselbe gewesen sei wie mein heutiges, legitim und nicht trivial. Nur schon ein Blick in den Spiegel und auf ein Foto, das damals auf dem Weissenstein von mir gemacht wurde, zeigt zwei ganz unterschiedliche Wesen, einen 74-jährigen Mann und einen 14-jährigen Jungen. Zweifle ich an der Identität der Ich, müsste ich von verschiedenen Ich-Versionen sprechen oder «er» sagen. Um dieses Problem zu umgehen, hat sich die Philosophie lange und zum Teil bis heute auf das beschränkt, was sie «Geist» nennt oder «Vernunft» oder, im älteren Vokabular, «das Unsterbliche» bzw. «die Seele», der Körper wurde, wie in der Religion, aus diesem Denken ausgeschlossen. Der «wirkliche» Mensch ist in diesem Verständnis Geist; der Körper ist nicht viel mehr als ein komplexer Apparat. Aber über den Körper gehören wir der Ökosphäre an!

Beim Arbeiten im Garten habe ich über meinen Körper nachgedacht. Mir ist bewusst geworden, dass mein Körper sich mit der Erde vergleichen lässt, die ich bearbeite. In meiner Gartenerde hat es Wasser und Luft, wie in meinem Körper auch. In der Erde braucht es, wie in meinem Körper, Öffnungen und Kanäle, damit er «atmen» kann. Die Erde ist geschichtet wie meine Haut auch. In meiner Gartenerde hat es Milliarden von Mikroorganismen, wie in und auf meinem Körper auch. Die Erde ist aus organischen Verbindungen und Elementen aufgebaut, die in meinem Körper auch vorkommen. Meine Gartenerde und ich sind deutlich als Teil derselben Ökosphäre erkennbar, wir tragen dieselbe Signatur.

Was ist der ins Universale strebende Geist ohne Körper, der uns zu Erdverbundenen macht? Eine Chimäre! Der Raum, in dem wir mit allen anderen Lebewesen leben können, die Ökosphäre, ist eine dünne irdische Haut. Im Lockdown der Covid-Pandemie trösteten uns nicht universelle Geister, sondern diejenigen, die Lebensmittel produzierten und zu uns brachten, Männer und Frauen, die uns pflegten. Wir sorgten uns um genügend Toilettenpapier. Wir entwickelten Verhaltensweisen, die denje­nigen von Ameisen und Termiten zu gleichen begannen, nicht der Krone der Schöpfung. Wir bewegten uns in unseren Bauten und horteten. Viele klagten und hegten die unwahrscheinlichste aller Hoffnungen: dass es wieder so werde wie vorher. Gibt es ausser uns ein Tier, das hofft, dass es wieder so werde wie vorher? Es würde nicht überleben können.  

Wer bin ich, wenn ich mich als Erdverbundenen definiere? Ich bin in die Kreisläufe und Netzwerke der Ökosphäre eingebunden. Ich muss Leben essen, sei es pflanzlich oder tierisch, damit ich leben kann. Ich muss Wasser trinken. Ich muss Luft atmen und bin auf den Sauerstoff angewiesen, den die Pflanzen produzieren. Ich bin in die Kreisläufe und Netzwerke eingebunden. Ich muss ausbaden, was ich der Ökosphäre angetan habe. Die Zukunft kennt kein vorher. Ich muss meine Wünsche und mein Wollen vom Universellen abwenden und jener dünnen Haut zuwenden, die mich leben lässt und die ich mit allem, was dazu gehört, erhalten muss, damit Zukünftige weiterhin leben können.

Ich muss mich als Tier begreifen und vom Tier, das ich bin, sowie von der Ökosphäre aus denken, was möglich ist. Das muss die Grundlage meines Wünschens und Wollens sein.