Christian Schmid ist ein Schweizer Mundartspezialist, Autor, Publizist und Performer. Seine wichtigsten Publikationen sind "Botzheiterefaane", "Blas mer i d Schue", "Näbenusse" und "Da hast du den Salat".

Der Eggenzinken

Auf meinem Schreibtisch herrscht Unordnung. Bücher stapeln sich, Notizzettel liegen herum, Briefe, die ich längst fortwerfen könnte, Kugelschreiber und Bleistifte, hölzerne Handschmeichler, ein Ei und eine Kugel, ein Ammonit und links vom linken Computerlautsprecher ein hässlicher Gegenstand, der mit dem Rest nichts zu tun zu haben scheint: ein achtzehn Zentimeter langer, rostschorfiger Eggenzinken oder Eggenzahn. Er taugt zu nichts, auch nicht als Briefbeschwerer, denn die äusserste Rostschicht blättert ab und er macht Flecken.

Während eines Spaziergangs erblickte ich ihn zufällig in einem Acker und er weckte mein Interesse, weil ich für einen kurzen Moment wähnte, etwas archäologisch Wertvolles gefunden zu haben. Doch kaum hatte ich ihn mit den Fingern von der Erde befreit, die an ihm klebte, entpuppte er sich als wohlbekannter Gegenstand meiner Kinderwelt. Ich nahm ihn mit nach Hause, weil er eine ganze Reihe Erinnerungen weckte.

Mit der Egge lockert der Bauer den Ackerboden, zerkleinert die Schollen nach dem Pflügen oder kämmt, meist nach der Winterpause, Wiesen und macht die Maulwurfshügel platt. Zu meiner Kinderzeit in den 1950er-Jahren bestand sie aus einem von Pferden gezogenen viereckigen Holzgerüst mit vier oder fünf Reihen Eisenzähnen. In finsteren, spinnwebenbehangenen Scheunenecken lagen manchmal ausrangierte ältere Modelle mit Holzzähnen, von denen meistens ein paar abgebrochen oder ausgefallen waren. Bauern, die sich Neuanschaffungen leisten konnten, hatten damals bereits Modelle ganz aus Metall. Moderne, traktorgezogene Kreiseleggen haben keine Zähne mehr, sondern rotierende Scheiben, welche die Ackererde so fein aufbereiten, als hätte man sie durch ein Teesieb geseiht. Was geschieht bei diesem Prozess mit den Würmern und anderem Kleingetier, frage ich mich.

Bauer Juillard, dessen Hof in Les Bornes, wo ich die Welt kennenlernte, gegenüber dem Zollposten stand, nannte dieses Gerät herse. Ich schaute ihm zu, wenn er eggte und neben den Pferden über den Acker schritt, der sich langsam von einem Schollengewusel in einen Teppich verwandelte. Lag sie in der Scheune, setzte ich mich darauf und flog wie meine Comic-Helden Jo, Zette und Joco um die Welt.  

Mein Götti Christen, bei dem ich im Vorschul- und Volksschulalter einige Male in den Ferien war, ein mit seinem Schicksal unentwegt hadernder Kleinbauer, der nicht zu den Wohlhabenden im Dorf gehörte, nannte seine Egge mit Holzgerüst Eichte oder Eichtli. Oft sagte er am Sonntag nach dem Mittagessen: I chönt uf eren Eichte schlaaffe, eso müed bin i. Nahm er im Frühjahr die Egge aus der Scheune, musste er oft den einen oder anderen Zingge, wie er sagte, mit dem Hammer gerade schlagen oder, war einer gebrochen, ersetzen. Dann wuchtete er das schwere Gerät mit einem Knecht oder seinem Sohn auf die Ladebrücke eines Wagens, spannte an, befahl mir aufzusteigen und wir fuhren ackerwärts.

Beim Acker angekommen, forderte er mich auf zu helfen und schob die Egge zur Kante der Ladebrücke, wobei er sich nicht verkneifen konnte vor Anstrengung schwer atmend zu bemerken, ich sei nicht gerade der Stärkste und deshalb keine grosse Hilfe. Von der Kante liess er sie zu Boden fallen. Lag sie mit den Zähnen nach unten, spannte er die Pferde an, sagte, ich sei nicht hier, um Maulaffen feilzuhalten, befahl mir, auf die Egge zu sitzen und mich gut festzuhalten. Dann ging der stundenlange Tanz über die Schollen los. Nach getaner Arbeit schmerzte mich mein Hintern sogar beim Stehen und die Arme hingen lahm an meinem Körper. Dank oder Aufmunterung gab es nicht, Christen war ein raubeiniger Mann.

Jahre später las ich beglückt, weil sich in mir Erinnerungen wie farbige Blumen öffneten, Peter Roseggers Erzählung «Weg nach Mariazell». Rosegger schildert, wie er am Tag der Geburt seines zweiten Bruders auf der Egge sass, die sein Vater mit einem Ochsengespann über den Acker führte: «Ich hockte mitten auf der Egge oben und liess mich über den Acker hin und her vornehm spazieren fahren.» Ich schmunzelte beim Lesen, dann für den kleinen Peter dürfte der Tanz über die Schollen ebenso wenig ein vornehmes Spazierenfahren gewesen sein wie für mich. Roseggers Sentimentalität malte da einen Strich zu schön. Da rauscht, erschreckt durch einen Peitschenknall von Vater Rosegger, eine Schar Haselhühner aus einem nahen Gebüsch und erschreckt die Ochsen derart, dass sie durchbrennen. Der Bauer sieht sein Kind auf dem wild umhergeworfenen Gerät: «Mein Vater soll die Augen zugemacht und sich gedacht haben: Jesses, kaum ist der Kleine da, ist der Grosse schon hin. – Dann schlug er die Hände zusammen und rief es zu den Wolken empor. ‹Unsere liebe Frau Mariazell!›» Der Kleine hat Glück, er wird von der Egge geworfen und kommt mit ein paar Kratzern heil davon. Darauf entschliesst sich der Bauer, nach Mariazell zu wallfahrten und der angerufenen Beschützerin zu danken. Er nimmt den kleinen Peter mit, der sieht, dass sein Vater einen in Papier gewickelten Gegenstand in die Tasche steckt. Was es ist, gewahrt Peter erst in der Gnadenkapelle: «Dort griff er in seine Rocktasche, langte den von mir unerforschten Gegenstand hervor, wickelte das graue Papier ab und legte ihn mit zitternder Hand auf den Altar. Jetzt sah ich, was es war – ein Eisenzahn von unserer Egge war es. –»

Dieser Eisenzahn dürfte so ausgesehen haben wie mein Eichtezingge auf dem Schreibtisch. Er bleibt und wird wohl, wertlos geworden, erst mit mir aus dem Haus gehen.