Christian Schmid ist ein Schweizer Mundartspezialist, Autor, Publizist und Performer. Seine wichtigsten Publikationen sind "Botzheiterefaane", "Blas mer i d Schue", "Näbenusse" und "Da hast du den Salat".

Laub rechen

Eine grosse Linde und vier Apfelbäume, neben dem Haus eine Goldparmäne, hinter dem Haus ein Boskop, ein Klarapfel und ein Flurina, stehen im Garten, den meine Frau und ich seit gut einem Jahrzehnt bewirtschaften. Vor dem Haus schützt uns ein haushoher Haselstrauch vor zu viel Sonne, wenn die Temperatur auf dreissig Grad und höher steigt, einige Fliederbüsche sind die Zierde des Frühlings. Mit dem Herbst kommt die Zeit des Laub Rechens. Alle paar Tage steigt eines von uns mit Laubrechen und Korb bewehrt aus dem Keller, nimmt das Gröbste von Wegen, Wiese und Frontrabatte und wirft es auf den Kompost. Reste bleiben liegen, denn von den Bäumen fällt es wieder und wieder. Und die Würmer sollen auch was haben. Es geht also mehr darum, dass der Wind nicht alles herumweht, auf die Strasse, in die Nachbargärten, weniger um Ordnung.

Die Sprache reisst mich weit vom Anschaulichen weg ins unsinnlich Abstrakte, wenn ich Laub rechen sage. Laub kann ich nur denken, nicht sehen und zeigen. Das Wort bezeichnet eine Gesamtheit; entweder alle Blätter eines Laubbaums oder Laubwalds oder die dürren Blätter, die ich in unserem Garten zusammenreche. Ursprünglich bezeichnete es Streu oder Futter, das von Laubbäumen abgerissen oder abgeschnitten wurde, denn es ist von einem Verb mit der Bedeutung «abreissen, abschneiden» abgeleitet. Der Winzer laubt die Reben, damit die Trauben mehr Sonnenlicht bekommen, die Ziegen lauben Sträucher. Doch lauben meint auch «Blätter bekommen»; Neidhart lässt bereits im 13. Jahrhundert eine Magd sagen: «die boume die den winter stuonden val âne zal, / die siht man in dem walde louben.» Weil loup im Mittelalter auch ein einzelnes Blatt bezeichnen konnte, gab es dazu die Mehrzahl löuber.

Sage ich Blätter rechen statt Laub rechen, ersetze ich die abstrakte Einzahl durch die wahrnehmbare Vielzahl, schlage jedoch die ganze Formen- und Farbenvielfalt vor meinen Füssen und im Korb über einen Leisten. Jeder Laubbaum, jeder Strauch, jede Blattpflanze hat Blätter, die ihr eigen sind, grosse, kleine, runde, tropfen- und lanzettförmige. Zudem liegen zu Beginn nicht nur Blätter am Boden, sondern vor allem die blassgelben Propellerchen der Lindensamen.

Gar nichts sagen die Ausdrücke Laub rechen und Blätter rechen, welche die Tätigkeit vollständig von mir abstrahieren, über mein Erleben des Laub Rechens. Die Bewegung, mit der ich den Rechen ziehe und die ich in meinen Schultern schon fühle, wenn ich aus dem Keller hochsteige. Dann das Aufnehmen des Laubs vom zusammengerechten Haufen, entweder mit dem Rechen, den ich mit der einen Hand ganz unten am Stiel fasse, und mit der anderen Hand oder mit beiden Händen. Das Füllen des Korbs und das Leeren auf den Kompost. All diese Tätigkeiten sind verbunden mit Geräuschen. Nicht alle Blätter rascheln und rauschen in der Menge; die harten Fliederblätter kollern. Sind die Blätter nass, klingt es verhaltener. Ich fühle den Rechenstiel, die gewundenen Weidenruten der Korbgriffe, die weiche Sprödigkeit der Blätter, ihr elastisches Nachgeben, wenn ich sie im Korb zusammendrücke. Ich sehe die unscheinbaren, kleinen Blätter der Linde, die grossen gelben des Klarapfelbaums, die leicht rötlichen des Flurinabaums, die schwärzlichen des Flieders. Dazu die Gerüche: der sanfte, leicht moosig-modrige Geruch, der schärfer wird, wenn die Blätter nass sind. Der Erdgeruch der Wiese.

Und schliesslich verbinden sich mir mit dem Laub Rechen ganz bestimmte Erinnerungen. Mein Vater hatte überall, wo er seinen Beruf als Grenzwächter ausübte, einen Garten. Und im Herbst war das Laub Rechen Pflicht. Wir gingen mit dem Fahrradanhänger in den Wald oder einer Allee entlang und füllten einen Jutesack um den anderen. Das störte mich in den abgelegenen Orten, wo die ländlichen Zollposten standen, nicht. Damals sammelten dort alle Laub und Holz. Aber als ich in der Stadt Basel mit Vater, Fahrradanhänger, Jutesäcken und Rechen in die Kastanienallee beim Gottfried-Keller-Schulhaus musste, um das knöchelhoch liegende Laub zu rechen, sank ich vor Scham fast in den Boden. Alle schauten uns verwundert nach, tauschten über uns Bemerkungen aus, die nicht vorteilhaft geklungen haben dürften, lachten manchmal, und die Kinder, die von der Schule kamen, hänselten mich laut und ausgiebig. Wir waren die einzigen, die in dieser städtischen Umgebung noch Laub rechten.

In die Tätigkeit des Laubrechens ist mein ganzer Körper mit allen seinen Sinnen eingebunden, auch meine Gedanken und Erinnerungen. Ich bin mit der ganzen Umgebung verbunden und kommuniziere auf mannigfache Weise mit ihr. Laub Rechen ist eine umfassende Weise des in der Welt Seins. Packe ich das in den Ausdruck Laub rechen, habe ich damit höchstens eine Spur angedeutet, gesagt habe ich eigentlich gar nichts. Was wir im Alltag sagen, streift nur die Wipfel des Daseins.