Christian Schmid ist ein Schweizer Mundartspezialist, Autor, Publizist und Performer. Seine wichtigsten Publikationen sind "Botzheiterefaane", "Blas mer i d Schue", "Näbenusse" und "Da hast du den Salat".

Wortgeschichten - eine sprachkundliche Sonntagsreiterei?

Seit Jahrzehnten erzähle ich in Wortgeschichten für ein Laienpublikum woher Wörter und Redensarten kommen und was wir mit ihnen sagen. Das Handwerk lernte ich als Radioredaktor in der Rubrik «Briefkasten» der Mundartsendung «Schnabelweid» bei Radio SRF. Mein Kollege Martin Heule und ich haben das Format entwickelt, das sich – wir sind beide längt pensioniert – bis heute bewährt. Als freier Autor publiziere ich meine Wortgeschichten in Büchern und in der Rubrik «Wort oder Ausdruck der Woche» auf der Seite «Aktuell» meiner Webseite (christian-schmid-mundart.ch).

Neben den klassischen etymologischen Wörterbüchern, welche die Herkunft von Wörtern erklären, gibt es spezielle Nachschlagewerke für Redensarten, wie das «Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten» (6. Auflage 2003) von Lutz Röhrich, das Duden-Buch «Redewendungen» (5., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2020) und «Deutsche Redewendungen» (auf geo.de/geolino/redewendungen/15200-thema-deutsche-redewendungen). Für Laien haben viele mehr oder weniger an ihrem Gegenstand interessierte, oft mehr um eine locker-flockige Sprache als um Präzision bemühte Autorinnen und Autoren Wortgeschichten-Bücher verfasst, die gern durch originelle Titel auffallen, z. B. «Tesa, Tuc und Teddybär. Das grosse Lexikon der rätselhaften Wörter» (2001) von Hartwig Lödige, «Die Sau im Porzellanladen. 77 neue Wortgeschichten» (2008) von Klaus Bartels, «Alles Kokolores? Wörter und Wortgeschichten aus dem Rheinland» (2012) von Peter Honnen,  «Wiener Wortgeschichten. Von Pflasterhirschen und Winterschwalben» (2012) von Robert Sedlaczek und Reinhardt Badegruber, «Gauner, Grosskotz, kesse Lola. Deutsch-jiddische Wortgeschichten» (2016) von Christoph Gutknecht und «Redensarten & Sprichwörter. Herkunft, Bedeutung, Verwendung» (2016) von Christa Pöppelmann, um nur einige wenige zu nennen.

Obwohl ich viele Nachschlagewerke verwende, kontrolliere ich nach, was sie mir erzählen. Denn oft ist es zu mager, nur die halbe Wahrheit oder schlicht falsch. Das Duden-Buch «Redewendungen» erzählt mir, die Redensart jemandem einen Bären aufbinden gehe davon aus, «dass es praktisch unmöglich ist, jemandem (ohne dass er es merkt) einen Bären auf den Rücken zu binden». Diese Erklärung ist, gelinde gesagt, absurd. Die Redensart hat ursprünglich nichts mit dem Raubtier Bär zu tun. Sie meinte «jemanden mit einer Schuld sitzen lassen», denn Bär oder Ber «Steuer, Schuldenlast», seit dem 13. Jahrhundert belegt, u. a. im «Codex diplomaticus et epistolaris Moraviae», ist abgeleitet vom alten Wort beren «tragen», das heute noch in den Wörtern Bahre und gebären versteckt ist. Ulrich Brägger erzählt in seiner Autobiografie «Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg» von 1788, er müsse seine Bären «Schulden» bezahlen. In seinem «Synonymischen Wörterbuch» von 1795 schreibt Friedrich Heynatz:

«Einen Bären anbinden, weis machen […] Sonst heisst einen Bären anbinden auch Schulden machen, und hernach dem Schuldner aus den Augen gehen, um ihn nicht bezahlen zu dürfen, oder um sich nicht von ihm mahnen zu lassen. Wenn er einen Bären bei mir angebunden hat, bleibt er weg.»

Wer einen andern mit Schulden belastet und ihn damit sitzen lässt, übertölpelt ihn. Daher kommt die Redensart.

Nur die halbe Wahrheit erzählt Klaus Mackowiak im eben erschienenen «Kann Spuren von Latein enthalten. Kleines Lexikon deutscher Wörter lateinischer Herkunft» (2023) zum Wort Fatzke. Er behauptet, es gehe «mit einiger Wahrscheinlichkeit» über das veraltete Verb fatzen «verspotten, necken» auf Fatz «Spott, Witz» zurück, das aus lateinisch facetia «das Drollige, der Witz, Scherz, Laune» abgeleitet sei. Mackowiak verschweigt, dass die meisten etymologischen Wörterbücher Fatzke eher auf die Koseform Wacek des polnischen Vornamens Wacław zurückführen, weil das Verb fatzen längst veraltet war, als Fatzke «eitler, von sich eingenommener Mensch» um 1900 in Berlin in Gebrauch kam. Es wäre für ihn einfach gewesen mit eigenen Nachforschungen im Internet zu sehen, dass Watzke und Vatzke Familiennamen sind, wie Jatzke, Hatzke, Matzke, Patzke, Satzke auch. Dass die «Zeitung für das höhere Unterrichtswesen Deutschlands» vom 27. November 1874 über einen untüchtigen Minister schreibt: «Hanne Vatzke! nennt der Berliner solche Leute», was doch sehr einem Namen gleicht. Und dass Figuren mit Namen Fatzke in einigen Prosatexten und Theaterstücken vorkommen. Im Donauschwäbischen gibt es zudem das Wort Fazko «Ohrfeige, Schläge». Alles weist darauf hin, dass Fatzke eher slawischen als lateinischen Ursprungs ist. Nähme Mackowiak seine Leserinnen ernst, hätte er darauf hinweisen müssen, dass die Herkunft von Fatzke nicht eindeutig ist.

Nimmt man Wortgeschichten ernst, auch wenn sie für Laien sind, sind sie ein heikles Geschäft, bei dem Eindeutigkeit eher die Ausnahme ist. Das macht das beste Buch deutlich, das ich zum Thema gelesen habe, Anatoly Libermans «Word Origins … and How We Know Them» (2005). Ich finde es bedauerlich, dass viele Autorinnen und Autoren nicht nachprüfen, was sie ihren Leserinnen und Lesern vorlegen. Sie schreiben ab, was Nachschlagewerke vorlegen, auch wenn diese Nachschlagewerke in die Jahre gekommen sind. Das führt dazu, dass das Handwerk des Worterklärens bei Fachleuten in Misskredit gerät, weil immer wieder dieselben Windeier weitergereicht werden. Dabei haben wir heute mit dem Internet ein Instrument zur Hand, mit dem wir zum Gebrauch von Wörtern und Redensarten gezielt Belege suchen können in Tausenden von Schriften, die von der frühen Neuzeit bis heute vorliegen. Es braucht Zeit, weil man mit verschiedenen Schreibungen und grammatischen Formen spielen muss. Aber der Aufwand lohnt sich immer. Ich bin dazu übergegangen, in die Geschichten, die ich erzähle, Belege einzufügen, damit meine Leser und Leserinnen verfolgen können, wo ich mein Wissen herhabe. Meine Geschichten werden dadurch etwas schwerfälliger. Aber ich will den Lesenden weder einen Bären aufbinden noch sie mit Halbwahrheiten abspeisen.
Wie ein gutes Wortgeschichtenbuch aussehen kann, zeigt übrigens Andreas Unger mit «Von Algebra bis Zucker. Arabische Wörter im Deutschen» (Reclam, 2006).